Mit launigen Worten baute Dirigent Daniel Cohen seinem Publikum eine Brücke zum nicht alltäglichen Programm: Alle drei im Zweiten Sinfoniekonzert im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt erklingenden Werke seien Musik über Musik. Zur Illustration ließ er die Musiker des Staatsorchesters Darmstadt den Bach-Choral „Es ist genug“ singen, in dem Alban Berg sein Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ gipfeln lässt. Auch ließ er eine der vielen volkstümelnden Melodien aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ anklingen, die Mahler in seiner Ersten Symphonie wieder aufgreift. „Jetzt gerade ruft Pierre Boulez an“, meinte Daniel Cohen und erntete die erwarteten Lacher (für Außenstehende: Der Besagte ist vor drei Jahren gestorben). Dessen Orchesterfassung der Notations aufführen zu dürfen, bedeute für ihn einen „Festtag“. Ursprünglich waren die Notations ein Zyklus von Klavierstücken, die Boulez im Alter von zwanzig Jahren geschrieben hatte: eine frühe Zahlenspielerei des späteren Serialisten, in der die Zahl zwölf sich nicht nur auf die Anzahl gleichberechtigter Töne bezog, sondern auch den formalen Aufbau jedes der zwölf Stücke. In seine Orchesterfassung ließ Boulez viele Erfahrungen einfließen, die er als Dirigent gesammelt hatte, etwa, indem er jedem Musiker innerhalb des groß besetzten Orchesters auch mal eine Schlüsselrolle in kammermusikalisch instrumentierten Abschnitten zukommen ließ.
Ausgedehnte Melismen in diesem Werk (es erklangen die Sätze I-IV und VII) bezeichnete Boulez ausdrücklich als Hommage an Bergs Violinkonzert, das sich prompt anschloss. Solist war Michael Barenboim, ein enger Vertrauter von Daniel Cohen seit ihrer gemeinsamen Zeit im von Michaels Vater geleiteten West-Eastern Divan Orchestra. In der Komposition nicht als Ready-Made vorgesehen war das Mobiltelefon-Solo gegen Ende des zweiten Satzes. Die Musiker widmeten ihm eine beredte Schweigeminute. Für das etwas zu tief geratene hohe Schluss-g entschädigte sehr reichlich Barenboims Zugabe, Bachs Loure aus der Dritten Partita BWV 1006: aus der Introvertiertheit reich aufblühend, tänzerisch, sanglich, heilig.
In Mahlers Erster Symphonie, opulenter Nachtisch mit umfassendem Sättigungseffekt. Mit selektiver Entschleunigung begegnete Daniel Cohen der Gefahr, die häufig wechselnden Tempi einander anzugleichen.
DORIS KÖSTERKE
13.10.2019