Zender, Schubert, Winterreise

Schuberts Freunde reagierten erschüttert auf die Uraufführung seiner „Winterreise“. Heute gehören die 24 Lieder, in denen ein verschmähter Liebender zunehmend lebens­müde seinen Schmerz besingt, zu den größten Kassenschlagern des klassischen Musikmarkts. Hans Zender (1936-2019) wollte dem Liederzyklus etwas von seiner ursprünglichen Wirkung zurückgeben, als er den Klavierpart zu einem geräuschnahen Orchesterstück für 24 Instrumentalisten ausweitete. …weiterlesen

Carsten Ludwig und Martin Mayes

Carsten Ludwig und Martin Mayes schufen für das derzeit noch unsanierte Festspielhaus Hellerau ihr SchubertEcho (1998), ein museal-kulinarisches Stück Musiktheater, das in mir auch heute noch unter der Haut in allen Sinnen nachhallt.

Das Echo von Hellerau

DRESDEN. Ein Mensch mag im Leben gewisse Chancen haben, sich nicht an der Rolle der Behinderten, des Ausländers oder „der“ Frau reiben zu müssen. Aber jeder, der nicht vorher stirbt,  wird einmal alt. Wie das Altwerden sich gerade für Musiker anfühlt, hat Mauricio Kagels aus atem (1969/70) gezeigt. Weil Kunst aber auch helfen kann, sich in diese Rolle hineinzufinden, bekam das SchubertEcho, ein museal-kulinarisches Musiktheaterstück von Carsten Ludwig und Martin Mayes im Festspielhaus Hellerau bei Dresden, den Ersten Trude-Unruh-Preis der Grauen Panther.

Schuberts Winterreise nach Texten von Wilhelm Müller setzte den musikalischen und inhaltlichen Rahmen. „Museal“ war die von Ulrike Gärtner im Foyer installierte Ausstellung von Dokumenten aus dem Leben und Wirken jener (Ex-)Sängerinnen und Sänger der Dresdner Semperoper, die sich in dieser Inszenierung mit der Todessehnsucht des jungen Wanderers in Schuberts auseinandersetzten.

Durchschlagender Grundton

Als der schottische Hornist Martin Mayes ihm mit der Idee kam, Schuberts „Winterreise“ eins Theaterprojekt zu machen, wand Carsten Ludwig sich vor diesem Kassenschlager der Klassikvermarktung, bis eine musikalische Besonderheit des Schubert-Werkes den Aufhänger für seine Inszenierung bildete: die Betonung des Grundtons gegenüber dem wilden Wuchern der Harmonie. — “Ich dachte: ein künstlerischer Perfektionismus feilt doch in erster Linie an den Obertönen, im übertragenen Sinne: an der Fassade. Aber wenn Künstler älter werden, denn muß doch eigentlich der Grundton durchschlagen!” — So beschloß er, mit Sängern zu arbeiten, die nicht mehr genügend Zugriff zu ihrer Stimme haben, um künstlerische Eitelkeiten polieren zu können, deren lebenslang kultivierte Musikalität, Gespür für künstlerische Substanz und darstellerisches Geschick jedoch so entwickelte sind wie nie zuvor. — Faktisch begann da für Carsten Ludwig eine Gratwanderung durch das Gefühl der alternden Darsteller, ihren körperlichen Verfall präsentieren zu sollen.

Carsten Ludwig, Martin Mayes

Um die in Schuberts Liedern wohnende Melancholie nicht an die Oberfläche kommen zu lassen, hat Martin Mayes bei seiner Bearbeitung des Schubertschen Notentextes für ein Instrumentalquartett die Rhythmen bisweilen so verändert, daß sie ihn an die ländlichen Tanzveranstaltungen seiner italienischen Wahlheimat erinnerten, die vornehmlich von Senioren besucht werden. Für den Saxophonisten Roberto Regis war „ballo liscio“ ein Register, das er unmittlebar zu ziehen wußte. Horn, Tuba und Kontrabaß lieferten eine klampfenartig Begleitung, und der geschmeidigen Fröhlichkeit, die die Musiker im so veränderten und des Textes entledigten Einganslied verbreiteten, konnte man sich bei bestem Unwillen nicht entziehen. Den Fußboden des 1912 für die Wiege des Ausdruckstanzes erbauten Festspielhauses, bei dem erstmals die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben war, hatte Carsten Ludwig mit echten Grasplaggen ausgelegt. Der frische Duft und das Gefühl unter den Füßen waren ebenfalls tragende, lebenbejahenden Momente des Projektes.

Die Besucher fanden an langen Tischen Platz, die mit Brot, Wein und Suppentellern eingedeckt waren. Auf einem schräg den Aufführungsraum durchziehenden Podest waren mehrere Küchen-Einheiten in einer Reihe aufgestellt. Frisches Gemüse prangte auf Arbeitsflächen und Regalen und roch lecker. Mehr als zwanzig Sängerinnen und Sänger im Alter von kurz vor der Pensionierung bis über achtzig widmeten sich heiter der Küchenarbeit: putzten Gemüse oder die Frontflächen der Herde, spülten Geschirr oder trockneten ab. Dazu ließen sie die Lieder Revue passieren, die Eckehard Mayer in Abstimmung mit Mayes’ Instrumentalpartien in spannungsvollen Wechseln zwischen melodramatischem Sprechen, Solo, Ensemble- und Chorgesang arrangiert hatte.

Mit bewundernswerten Technik und in luftiger Höhe aufgehängter Strahlkraft ihrer Stimme sang die 66-jährige Eleonore Elstermann das Lied Gefrorne Tränen, als sei das Weinen längst nicht so wichtig zu nehmen, wie der Zauber der Leidenschaft, die es hervorgebracht hatte. Durch ein von den Instrumentalisten improvisiertes Dickicht bahnte sich ein einstimmiger Chor den Weg zum Brunnen vor dem Tore.

Schelmische Distanzierung

Martin Mayes hatte in Schuberts Reduktionismen geradezu Webensche Qualitäten gesehen. Aus der Perspektive des Nachgeborenen dünnte er den Satz noch weiter aus, bis etwas zum Tragen kam, das im Wesentlichen nicht notierbar ist und was sich mit dem schwammigen Begriff der musikalischen Energie nur ebenso vage fassen läßt, wie „die“ künstlerische Substanz der Winterreise, um die es Carsten Ludwig ging. — Was Carsten Ludwig vorschwebte, schien sich am stärksten zu konkretisieren, als die 84jährige Elly Gröpler-Holst in einer Mischung von Anteilnahme und schelmischer Distanzierung den Text der Rast sprach. Im Instrumentalquartett konnten Differenzen in der energetischen Feinabstimmung zwischen dem rund miteinander harmonierenden Bläsertrio und dem kurzfristig eingesprungenen Kontrabassisten sich auswirken, als wellte sich unter einem feinmechanisch austarierten perpetuum mobile der Fußboden. Aber grundsätzlich war es Martin Mayes in seiner Bearbeitung gelungen, die reine Kraft der Melodien in einer Weise herauszudestilieren, die den Weltschmerz wie aus bewältigten Fernen duchschimmern ließ.

Die Post brachte auch in Hellerau nicht den ersehnten Brief. Statt dessen brachten „die Alten“ den Besuchern die mit dem auf der Bühne geputzten Gemüse angereicherte Suppe. Junge und Alte, die einander zuvor nie gesehen hatten, begriffen sich als Tischgemeinschaft, einer füllte allen die Teller, man reichte den Brotkorb herum und kam miteinander ins Gespräch. Nur eine Plane deckt die berühmte Ludwig-Kroher-Dachkonstruktion über dem 1912 von Heinrich Tessenow erbauten Monumentalgebäude. Tauben sendenFlugobjekte von unterschiedlicher Konsistenz nach unten. Dann und wann verläßt ein Stück Putz die überhohen Wände, deren Morbidität sie nun ganz „menschlich“ erscheinen lässt.

Inzwischen hatten „die Alten“ das Geschirr gespült, die Kochstellen gereinigt und alles geputzt. Gegen Ende der Nebensonnen wurden Nessellaken ausgebreitet, unter denen die Konturen der Küchenmöbel an das Kühlhaus der Pathologie erinnerten. Der noch in der vollen Blüte seiner Kunst stehende Bariton Jürgen Hartfiel sang den Leiermann. „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn?“ schillerte in unendlich vielen Dimensionen.

Das SchubertEcho von Hellerau zeigte, was über die Abgründe des jungen wie des alten Lebens hinwegtragen kann. Der Geruch von frischem Gras, die Kraft der Melodien und ein mit dem Alter wachsender Humor gehören dazu.

Doris Kösterke
Frankfurter Rundschau 27-06-1998

 

Terminal X – Building Our Future

 

„Im Walde steht geschrieben ein stilles ernstes Wort vom rechten Thun und Lieben, und was des Menschen Hort“. Bei einem seiner Sommerurlaube in Frankfurt hat Felix Mendelssohn Bartholdy diese Eichendorff-Worte in einen eingängigen romantischen Chorsatz gefasst. Mutmaßlich wurde sein „Abschied vom Walde“ op. 59,3 beim Wäldchestag im Jahre 1834 am Oberforsthaus aufgeführt. Ein Zitat daraus erklang im Musiktheater „Terminal X – Building Our Future“ von Julia Mihály (Hörbares) und Maria Huber (Dramaturgie und Inszenierung). …weiterlesen

Über das Archiv für Frau und Musik

Felix Mendelssohn Bartholdy veröffentlichte Kompositionen seiner Schwester Fanny unter seinem Namen. Im Kern sagte er damit: Deine Stücke sind gut. Aber Musik von Frauen will keiner kaufen. – Unter solchen Umständen blieben Komponistinnen unbenannt und unbekannt.
Inzwischen birgt das Archiv Frau und Musik in Frankfurt-Niederrad Werke von rund 1900 Komponistinnen aus 52 Nationen, vom 9. bis ins 21. Jahrhundert. Der Weg dahin war lang.

Erst übersehen, dann vergessen

Frauen trugen zwar weite Teile des Musik­lebens, traten aber nicht als Komponistinnen in Erscheinung, wunderte sich Sophie Drinker (1888-1967) in ihrem Buch „Music and Women: The Story of Women in Their Relation to Music“ (1948).
Die Dirigentin Elke Mascha Blankenburg (1943-2013) begab sich ausdrücklich auf die Suche nach Komponistinnen und fand erstaunlich viele. Neben Clara Schumann, Fanny Hensel und Lili Boulanger etwa Francesca Caccini (1587-1640), Elisabeth de la Guerre (1644-1729) oder Felicitas Kukuck (1914-2001). 1977 rief sie in ihrem Aufsatz „Vergessene Komponistinnen“ dazu auf, einen Arbeitskreis zu gründen, um Kompositionen von Frauen „auszugraben und aufzuführen“. Mehr und mehr Komponistinnen, Dirigentinnen, Interpretinnen und Wissenschaftlerinnen suchten in Bibliotheken, Archiven und Nachlässen nach Kompositionen von Frauen und brachten sie zur Aufführung. Die Fachwelt reagierte darauf mitunter begeistert. Mitunter schien sie Werke von auch noch kritischer zu beäugen als die männlicher Kollegen, die dem liebgewonnenen Repertoire auch nicht immer nur Unentbehrliches hinzufügen.

Das Archiv für Frau und Musik fördert erstklassige Ausbildung

Von ihrem Können her waren Frauen im 19. Jahrhundert waren oft erstaunlich gut ausgebildet. Julian Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv, rühmt die „ausgefeilte Harmonik Fanny Hensels, besonders in den späten Chorwerken“. Doch manchen anderen Komponistinnen war anzumerken, dass ihr Weg zu profunder musikalischer Bildung nicht geebnet war. Insbesondere an diesem Punkt konnte der Arbeitskreis viel bewegen und tut es in eigenen Veranstaltungen bis heute. In Zusammenarbeit mit dem mit dem Institut für Zeitgenössische Musik (IzM) an der Frankfurter Musikhochschule fördert er junge Komponistinnen durch das Arbeitsstipendium Composer in Residence. Im vergangenen Jahr konnte die mexikanische Komponistin Tania Rubio damit für ein paar Monate in Frankfurt arbeiten.

Am sichtbarsten ermöglicht der Arbeitskreis über sein Archiv Wertschätzung gegenüber zu Unrecht vergessenen Komponistinnen wie Emilie Mayer (1812-1883), Luise Adolpha Le Beau (1850-1927), Ethel Smyth (1858-1944), Luise Greger (1862-1944), Florence Price (1887-1953), Silvia Leonor Alvarez de la Fuente (1953–2004). Oder noch lebenden, wie Barbara Heller (geboren 1936) oder Vivienne Olive (geboren 1950).

Qualifizierte Mitarbeiter

Ein Stab qualifizierter, teils ehrenamtlich tätiger Mitarbeiter erschließt Funde, Nachlässe und Schenkungen fachgerecht und macht Noten, Tonträger, Werkanalysen, Sekundär- und „graue“ Literatur in übersichtlichen Regalen und Vitrinen vor Ort, aber auch digital über das Deutsche Frauenarchiv für eine breite Öffentlichkeit verfügbar. Zu den besonderen Schätzen des Archivs gehören Erstdrucke und Autographe, darunter Briefe von Clara Schumann.

Rock, Pop, Jazz, Chanson und Weltmusik

Neben Klassik gibt es auch Beiträge zu Rock, Pop, Jazz, Chanson und Weltmusik. „Aber nur, wenn sie Frauen von komponiert wurden“, betont Gitarristin Heike Matthiesen, eine der Vorstandsfrauen des Internationalen Arbeitskreises (IAK) nach der kritischen Frage, ob nicht gerade in kommerziellen Bereichen ein instrumentalisiertes Frauenbild herrscht.

Üben schafft Wertschätzung

Auf die Frage nach einer Lieblingskomponistin antwortet Dirigentin und Vorstandsfrau Mary Ellen Kitchens, Absolventin von Yale und Sorbonne, weise: „Als Musikerin liebt man immer besonders die Stücke, die man gerade übt“. Entsprechend unterstützt das Archiv neben der professionellen musikalischen Hochkultur ausdrücklich auch die breite Beschäftigung mit Frauen-Musik in Schulen, Musikschulen und im häuslichen Musizieren.

Rote Liste

Seit dem Jahr 2015 steht das Archiv auf der Roten Liste bedrohter Kultureinrichtungen. Die Bremer Mariann Steegmann Foundation und die Frankfurter Maecenia Stiftung fördern zwar einzelne Projekte. Aber um den laufenden Betrieb aufrecht zu erhalten, geht durch das Anwerben von Drittmitteln viel Arbeitskraft verloren. Dennoch ist es den Mitarbeitern wichtig, nach außen hin ansprechbar zu sein. Sie beraten bei der Programmplanung, unterstützen Musiklehrer beim Finden geeigneter Unterrichtsstoffe oder empfehlen Übefutter.

Frauen komponieren nicht anders, aber …

Gibt es ein typisch weibliches Komponieren? Alle befragten Archivmitarbeiter sind sich einig: Der handwerkliche Prozess ist nicht geschlechtsspezifisch. Aber die Impulse für neue Stücke können aus einer weiblich geprägten Lebenserfahrung kommen. So schreibt Vivienne Olive gerade an einer Kinderoper über Plastikpollution.

Hindernisreicher Weg

„Lobbying für Frauen in der Musik ist für mich eine zentrale Lebensaufgabe“, sagt Mary Ellen Kitchens: „Von den Werken, die derzeit in Abonnementkonzerten erklingen, stammen nur 2% von Komponistinnen“. Auch gilt noch immer die Bitte, mit der Elke Mascha Blankenburg ihren Aufsatz von 1977 beschloss: genau hinzuhören, wenn eine Frau Musik macht. „Sie hat einen hindernisreichen Weg hinter sich“.

DORIS KÖSTERKE
22.6.2020

Gespräch mit Kirsten Uttendorf zu Tschick

„Ihr seid doch nicht alle so angepasst, oder?“ – Die Jugendlichen, die Kirsten Uttendorf so fragt, reagieren mit einem befreiten Schmunzeln und stellen sich gleich ganz anders hin. Nehmen die Haltung ein, die die Darmstädter Operndirektorin provozieren will: Eine Haltung, „die man braucht, um den Weg zu gehen, den man in sich spürt“, wie sie sagt.

Gespräch mit Kirsten Uttendorf über ihre Inszenierung

Am Staatstheater Darmstadt inszeniert sie die Jugendoper „Tschick“ des Komponisten Ludger Vollmer nach dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrendorf. Viele Zehn- bis 14-jährige müssen den Roman für den Deutschunterricht lesen und sind entsprechend wenig davon begeistert: alle Vorurteile der Nation scheinen darin durchdekliniert und mit einer solchen Regelmäßigkeit entkräftet, dass das Entkräften der Klischees schon selbst zum Klischee wird.

Etwa dieser Tschick. Mit dem will niemand was zu tun haben: Puh, wie der riecht! Und wie der aussieht! Und was der anhat: Zehn-Euro-Jeans von KiK, also voll der Asi! Und ausgerechnet dieser stinkende Tschick kreuzt bei Maik zu Hause auf, stapft ungebeten in den gepflegten Garten und sagt: „Geiler Pool!“. Um dann ohne Worte zu verstehen, wie sehr Maik Tatjana liebt. Und wie unglücklich. Schließlich erweist sich dieser Tschick als der einfühlsamste Freund, den Maik, Musterbeispiel eines Wohlstandsverwahrlosten, je hatte. Der Maik immer wieder anstachelt, über seinen Schatten zu springen. Auf einer planlosen Reise nach Huckleberry-Finn-Manier in einem geklauten Lada durch den deutschen Osten. Auf der Flucht vor Polizisten, die von weitem erkennen, dass die beiden zu jung sind, um einen Führerschein zu haben. In Begegnungen, in denen die abstoßendsten Typen sich als die hilfreichsten erweisen. Und schließlich vor einem Jugendrichter. Der hat für die Jungs mehr Verständnis als Maiks Helikoptervater, dessen Fürsorge sich im Grunde auf eine Alibifunktion reduzieren lässt.

„Der Roman hat Qualitäten und Schwächen“, räumt die Darmstädter Operndirektorin Kirsten Uttendorf im Gespräch mit dieser Zeitung ein. Aber sie ist sicher, dass die Oper bei den Jugendlichen ankommt, über die so energiereiche wie vielschichtige Musik von Ludger Vollmer mit ihren Elementen aus „Schlager, Rap und Mozart bis Schönberg“, wie Uttendorf flott zusammenfasst: Der 1961 in Weimar geborene Vollmer hat bei dem Polystilisten Alfred Schnittke studiert. Als Schüler von Dimitri Terzakis wurde er (unter anderem) „Enkelschüler“ von Bernd Alois Zimmermann, der über die Grenzen von „niederer“ und „hoher“ Musikkultur erhaben war. 2014 bekam Vollmer den Weimarpreis verliehen, weil er „sich in seinen Werken für den Abbau von Vorurteilen gegenüber Minderheiten und für kulturelle Vielfalt einsetzt“, heißt es in der Verleihungsurkunde.

So auch in „Tschick“. Kerstin Uttendorf erlebte die Uraufführung 2017 am Theater Hagen und war elektrisiert. Allerdings hat sie aus den zweieinhalb Stunden der Uraufführung einiges herausgestrichen. „Der Komponist fand sogar selbst, dass die Gesamtaussage dadurch klarer wird: Wir brauche alle mehr Offenheit, mehr Mut, um anders als die Norm zu sein. Und mehr Humor“, sagt Uttendorf, die ihre Zielgruppe nicht auf Jugendliche beschränkt sieht. Sind deren Hirne nicht ohnehin, wie der Hirnforscher Romuald Brunner meint, „wegen Umbau geschlossen“? – „Nun, ich war ja auch mal in dem Alter und – irgendetwas hat mich schon erreicht!“, lacht Kerstin Uttendorf. „Theater war für mich damals sogar enorm wichtig“, fährt sie fort. „Für Theater war ich sogar wesentlich offener als für die Schule“. Mit Romuald Brunner könnte man das sogar erklären: weil in der Pubertät die Entwicklung der Nervenzellen im Emotionszentrum den grauen Zellen davonläuft, dürften Jugendliche über diese rein emotional verständliche Musik weit eher zu erreichen sein, als im Deutschunterricht.

Theater kann mehr als Schule

Die oben erwähnten Jugendlichen spielen in Uttendorfs Inszenierung „die Klasse“, die auf Norm Getrimmten, die mit Tschick (Georg Festl) und Maik (David Pichlmaier) nichts zu tun haben wollen. Doch nachdem die beiden für einen Sommer ihr Rebellentum gelebt haben, ändert sich „die Klasse“. „Von dieser Szene werdet Ihr noch Euren Kindern erzählen“, sagt Uttendorf.

Das Ende ihrer Inszenierung weicht vom Libretto von Tina Hartmann und auch vom Romanende ab: Bei Uttendorf lernt Maiks Mutter etwas ganz Wichtiges von ihrem Sohn. Dafür sind Kinder schließlich da.

DORIS KÖSTERKE
Das Gespräch fand am 18.02.2020 per Telefon statt.

 

Premiere am Freitag, den 21. Februar im Staatstheater Darmstadt, Kleines Haus ab 19:30. Restkarten für die Premiere sowie für die Vorstellungen am 26. Februar und 1. und 25. April sind im Vorverkauf erhältlich. Weitere Vorstellungen sind am 24. Mai und 9. Juni vorgesehen. Für alle lebenshungrigen Menschen ab zwölf.

Alexandre Tharaud liebt das Überraschen

 

Was passiert mit einem bekannten Werk, wenn man es in einem ungewohnten Zusammen­hang stellt? Der Klavierabend von Alexan­dre Tharaud im Kleinen Haus des Darmstäd­ter Staatstheaters gipfelte in Beethoven Sonate op. 110, begann mit Werken des französischen Barock und skizzierte mit einer eigenen Klavierbearbeitung von Mahlers „Adagietto“ aus dessen 5. Sinfonie die Entwicklung, die die Musikgeschichte nach Beethoven genommen hat. …weiterlesen