Von politischem Hass und zögernder Liebe

„Da stimmt was nicht“, dachte Isabel Mundry: ein achtzehnjähriger Gymnasiast hatte 2016 im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen getötet und sich auf ein Dach geflüchtet. In ohnmächtiger Wut brüllte ein Anwohner auf den Attentäter ein, in einem Wortschatz, den man eher dem Mörder zuordnen würde, der seinerseits in gepflegtem Deutsch reagierte. Ein Dritter filmte die Szene, stellte sie auf Youtube ein und ermöglichte der Komponistin die Diagnose „Leerraum aus Sprachlosigkeit“.  …weiterlesen

Polen – Verlorene Heimat und gewonnene Freiheit

Um hundert Jahre polnischer Unabhängigkeit zu feiern, erklangen in elf Städten außerhalb Polens, in Chicago, Kopenhagen, London, Lviv, Melbourne, Mailand, New York, Paris, Tokio, Wien und auch in Frankfurt die gleichen Fanfaren, extra für diesen Anlass komponiert von Krzystof Penderecki. Sie eröffneten Konzerte, in denen weltweit insgesamt hundert musikalische Werke erklangen, die von polnischen Komponisten in diesen hundert Jahren geschrieben wurden. Für sein Konzert im Clara Schumann Saal von Dr. Hoch’s Konservatorium hatte das Ensemble Modern seinem ehemaligen Akademisten Dariusz Przybylski ein weiteres in Auftrag gegeben. Sein Stück für Trompete und Ensemble mit dem Titel Ich war, ich bin, aber ich werde nie wieder sein (2018) erlebte seine Uraufführung mit Sava Stoianov als solidarischem Solisten, der mit verschiedenen Spiel- und Dämpfertechniken viele instrumentale Farben zum Ausdruck brachte. Tänzerisch dirigierte Michael Wendeberg dieses und die anderen Stücke.

Hauptwerk des Abends war das Ensemblestück Chain 1 (1983) von Witold Lutosławski. Es stellt eine Technik vor, in der Formteile nicht aneinandergrenzen, sondern einander überlappen. Sie wurde besonders deutlich, als sich unter einem Schluss mit Tamtam und großem Gerassel noch ein anderes Kettenglied verbarg, das das Stück weniger klischeehaft zum Abschluss brachte.

Mehr als seine Musique scintillante pour 14 interprètes (2007) begeisterte die persönliche Begegnung mit dem gepflegten Weltbürger Krzysztof Meyer. Jagoda Szmytkas Stück „electrified memories of bloody cherries. Extended Landschaft von Musik“ (2011) bezieht sich auf „verlorene“ polnische Ostgebiete, die Czesław Miłosz in seinem Roman Das Tal der Issa beschreibt. Wer aus einer Familie stammt, die ihre Heimat im heutigen Polen „verloren“ hat, musste über dieses Sujet tief durchatmen. Doch jenseits des politischen Beigeschmacks überzeugte das Stück mit seiner rein aus Geräuschen und geräuschnahen Klängen entwickelten musikalischen Logik.

Einen vergnüglichen Abschluss bildete das Ensemblestück 3 for 13 (1994) von Paweł Mykietyn mit pulverisierten Klassik-Klischees und humorvoll getäuschten Erwartungshaltungen.

DORIS KÖSTERKE

11.11.18

 

Das Konzert wurde vom Hessischen Rundfunk mitgeschnitten und ist am 31.01.2019 ab 20:04 Uhr auf hr2-kultur zu hören.

Wiese, Schätze, Datenklau – Land (Stadt Fluss)

Es riecht nach frisch geschnittenem Gras und Gemüse. Der Saal im Mousonturm ist mit Rasen ausgelegt. Auf der bühnenfüllenden Leinwand setzt sich der Rasen fort: grüne Hügel, Höfe, abgezirkelte Wälder zwischen ebenso gepflügten Feldern. Idylle? Seidls Musik meint: Jein.

„Land (Stadt Fluss)“ heißt das neue, jüngst uraufgeführte Gemeinschaftswerk von Hannes Seidl und Daniel Kötter. …weiterlesen

lichtverzwickt – Vertonungen ohne Goethe

„Goethe und die Musik“ ist die siebte Goethe-Festwoche überschrieben. Bei der Eröffnung im Frankfurter Goethe-Museum tagte eine vergnügliche Gesprächsrunde aus vier promovierten Musikwissenschaftlern, moderiert von Julia Cloot. Die ungeheure Zahl allein an Faust-Vertonungen? „Vorsicht!“, mahnte Friederike Wißmann: Von Liedern abgesehen beschäftigten sich die meisten Komponisten darin weniger mit Goethe als ganz allgemein mit dem im 16. Jahrhundert aufgekeimten Faust-Stoff, sagte die an der Schnittstelle zwischen Literatur und Musik forschende Bonner Professorin. Peter Gülke regte an, sich Goethes Tonlehre einmal auf rein philosophischem Wege zu nähern, ohne sie gleich mit natur- oder musikwissenschaftlichen Mitteln von der Hand zu weisen.

Vierter der Runde war Gordon Kampe, dessen Auftrags-Komposition „lichtverzwickt“ an diesem Abend ihre Uraufführung erlebte. Wie er darangegangen sei? Textvertonung sei seine Sache nicht, antwortete der gelernte Hamburger trocken. Auf der Suche nach einer höheren Abstraktionsebene als Ansatz für seine Komposition habe er sich Goethes Farbenlehre vorgenommen, vor deren Umfang und Schreibstil unter dem Zeitdruck des Auftrags bald kapituliert und sich dann einem Physikbuch zugewandt, das Goethes Farbenlehre mit der von Newton in Beziehung setzte. Grundsätzlich liege es auch ihm näher, die Spektren des Lichts in einem dunklen Wald statt im Dunkelkammerversuch auf sich wirken zu lassen, sagte Kampe, dessen Musik mit unmittelbar körperlich wirksamen Mitteln arbeitet. Um sich gegen jeden Esoterik-Verdacht zu schützen, habe er dunkle Farben gewählt: Englischhorn, Bassklarinette, Fagott, Viola, Violoncello und Kontrabass flankieren Horn und Posaune. Der Beginn wirkte wie das Sich-Anbahnen eines Erdbebens: Klangplatten scheinen sich gegeneinander zu verschieben, ineinander zu verzahnen, aufzutürmen und dann in einen Rhythmus aufzubrechen, dessen Sog man sich unwillkürlich anvertraut und zugleich darüber lachen möchte: Wie die einzelnen Soli, die sich immer wieder aus dem Kollektiv herausschälen und klanglich bisweilen an das Gezeter menschlicher Stimmen erinnerten. Auf den Humor in seiner Musik angesprochen, hatte Kampe einmal an „das bittere Lachen von Franz Kafka“ erinnert. Das für ihn charakteristische Umschlagen von einer Ebene in eine andere, von Albernheit in Tiefsinn und zurück, spürte man in ruhigen Klangflächen, über denen es sich Fata-Morgana-ähnlich zu spiegeln begann und in Klangfarben, bei denen man sich irritiert fragte, welches Instrument sie hervorbrachte. Humor spürte man auch in wiederholten Schlusswirkungen, die sich jeweils als Neuansatz entpuppten, der beim dritten Mal tatsächlich zum Schluss führte. (Hatte Goethe eigentlich Humor?)

Im gleichberechtigten Miteinander in Beethovens Septett op. 20 haten sich die sieben starken Persönlichkeiten aus dem Ensemble Modern die Bravos redlich verdient.

DORIS KÖSTERKE

6.9.2018

UA Bára Gísladóttir, Sarah Nemtsov

Uraufführungen zur Eröffnung der Darmstädter Ferienkurse 2018

 

 

Eine Atmosphäre fröhlicher Offenheit rahmte das Eröffnungskonzert der Darmstädter Ferienkurse in der Großen Sporthalle der Lichtenbergschule. Das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Baldur Brönnimann hatte noch bis kurz vor dem Einlass der Zuhörer geprobt. Die Stücke seien heikel, aber gut, hieß es aus Reihen der Orchestermusiker.

Bára Gísladóttir: VAPE

Die 1989 in Island geborene Bára Gísladóttir hat sich zu ihrem 2016/17 entstandenen Orchesterstück VAPE durch den Sarin-Angriff in der U-Bahn von Tokio am 20. März 1995 anregen lassen: den fünf Mitgliedern, die das in Kunststoffbeuteln verpackte Nervengift in fünf Pendlerzügen einbrachten, sollten fünf Gruppen von Instrumenten entsprechen. Im kaum hörbaren, geräuschnahen und konspirativ beklemmenden Eingangsklangnebel meinte man zumindest Flöte und Kontrabass als Attentäter identifizieren zu können. Als die Schlagzeuger sich an großen Plastikpaketen zu schaffen machten kombinierte man: jetzt sind die Attentäter kurz vorm Austeigen und bearbeiten die Pakete mit ihren Regenschirmspitzen, damit das bis dahin flüssige Sarin verdampfen und sich in Zügen wie U-Bahn-Stationen verteilen kann. Als Hörer im klanglich Nebulösen tappend dachte man, dass bei höherer Qualität des Sarins und einer professionelleren Methode der Verbreitung weit mehr als „nur“ 13 Menschen sterben und über sechstausend würden verletzt werden könnten.

Sarah Nemtsov: dropped.drowned

Dass viel Können dazugehört, um solche Klänge herzustellen, dachte man auch in „dropped.drowned“ (2017) der 1980 in Oldenburg geborenen Sarah Nemtsov: Im Vergleich zur zuvor erzählten Geschichte wirkte dies eher wie ein abstrakter Malvorgang mit dicken und dünnen, energischen und zarten Strichen im Fluss eines Schaffensvorgangs, der manchmal fließt, sich manchmal überschlägt und manchmal stockt, wobei man an das Zitat der neuseeländischen Schriftstellerin Janet Frame im Einführungstext der Komponistin dachte, dass Menschen die Stille fürchten, weil darin, wie im klaren Wasser, alles sichtbar wird: weggeworfene Gedanken etwa, vergrößerte Schatten seiner selbst. In der Musik schienen es Rufe aus einer anderen Welt, deklamiert wie in Dringlichkeit, aber nicht zu dechiffrieren. Als flirrende Geigenklänge das Gefühl gaben, es könnte Schluss sein, dachte man an den ebenfalls im Programmtext geschriebenen Satz: „Das Loslassen ist eine der schwierigsten Übungen, nicht nur in der Kunst“. Der tatsächliche Schluss dieses Stückes war denn auch ein Unüblicher. Etwas fiel, dann noch etwas. Und das Stück hörte auf, als müsse man sich jetzt um etwas anders kümmern.

Simon Steen-Andersen: Piano Concerto

Das Piano Concerto von Simon Steen-Andersen wurde bei den Donaueschinger Musiktagen 2014 uraufgeführt und vielfach preisgekrönt. Wer das Stück zum zweiten Mal sah, dem schien es auch in dieser Aufführung an seiner Entwicklung gemessen zu lang. Kleinere Dosen Klamauk hätten genügt.

Es kombiniert die Live-Aufführung mit einem Video, das, mit Methoden wie Wiederholung, Motiv-Abspaltung, zeitlicher Dehnung und Raffung oder „Krebsgang“ wie Musik komponiert ist. Das Grundmaterial ist die Zeitlupen-Aufnahme eines aus einiger Höhe fallenden Flügels, der beim Aufprall auf den Boden zwar in Teilen zerschellt, dank seiner drei Beine als Knautschzone jedoch so erstaunlich stabil bleibt, dass der Pianist ihm noch vergleichsweise vertraute Klänge entlocken kann. Nicolas Hodges zeigte sich hier in seiner Doppelbegabung als Pianist und Komiker, der etwa seinem Double auf der Leinwand zunickt, es solle nun fein nachspielen, was er vorspiele. Aber das Double schaut ausdruckslos ins Publikum, während das Orchester seinen Part übernimmt.

Natürlich ist es gekonnt, wenn ein Orchester tatsächlich klingt wie ein verstimmtes Bar-Piano. Und natürlich ist es witzig, wenn dazu der Flügel im vor- und zurücklaufenden Video ein Tänzchen hopst, bei dem die Splitter beim Aufprall auseinanderstieben und beim Hochfedern wieder zum Ganzen finden. Aber wo liegt der kulturelle Nährwert?

DORIS KÖSTERKE
14.07.2018