Kann man mit Kunst die Welt verbessern? Ilan Volkov, der die meisten Orchesterwerke dirigiert, die bei der „Zwischen Kunst und Politik“ überschriebenen „cresc.“-Biennale für Moderne Musik erklingen, ist vorsichtig optimistisch: „Ich hoffe, dass jeder seine eigene Utopie in sich trägt. Probleme gibt es, sobald irgendjemand behauptet zu wissen, was für einen anderen gut ist“, sagt er. Auf alle Fälle könnten die 14 Veranstaltungen an sieben Spielorten in Frankfurt, Wiesbaden und Hanau dazu beitragen, dass Menschen offener werden – offener füreinander und offener für neue Ideen: jedes Konzert sei wie das gemeinsame Ausprobieren einer Utopie. Im Eröffnungskonzert kreisen zwei Werke darum, wie und ob verschiedene Gruppen zu einem Ganzen zusammenfinden können. Tatsächlich treffen darin zwei Klangkörper aufeinander, das hr-Sinfonieorchester und das Ensemble Modern. Zeynep Gedizlioğlu behandelt in „Verbinden und Abwenden“ die kleinere Gruppe wie einen einzigen Solisten. Philippe Manoury verteilt Orchestergruppen und Solisten für sein „In Situ“ über den gesamten Großen Saal der Alten Oper. Beide Stücke legen nahe, Parallelen zur von Flucht und Migration bestimmten politischen Situation zu ziehen, die unter dem großen Motto „Transit“ des Kulturfonds Frankfurt Rhein Main auch in dieser Veranstaltung beabsichtigt sind. Impulsvorträge vom ehemaligen ARD-Ostasienkorrespondenten Peter Kujath, von der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss, sowie von der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddorund werden das näher beleuchten. Im Projekt „Bridges“ haben Siebtklässler der Frankfurter Bettinaschule mit professionellen Musikern aus aller Welt zusammengearbeitet und werden ihre Ergebnisse in der Alten Oper vorstellen.
Migration kann auch Entwicklung bedeuten. Wie ein roter Faden ziehen sich Aufführungen von Werken von Isang Yun durch das Festival. Eigentlich wollte der Nordkoreaner ein unpolitischer Komponist sein. Er kam nach Deutschland, um westliche Komposition zu lernen, wurde sich darüber seiner eigenen Tradition bewusst und über die Verbindung beider Kulturen berühmt genug, dass er, als er vom südkoreanischen Geheimdienst verschleppt und gefoltert wurde, über öffentliche Proteste befreit werden konnte. Seine Musik spiegelt das alles mit der Ruhe eines taoistischen Weisen.
Das Orchester-Konzert mit seinem großen Werk Réak (1966) und seinem Vermächtnis „Engel in Flammen“ wird von Peter Rundel dirigiert. Das Abschlusskonzert am Sonntag mit Werken, die aus dem Kompositionsseminar der Internationalen Ensemble Modern Akademie hervorgegangen sind, von Enno Poppe. Alle anderen dirigiert Ilan Volkov, der auch als Person für einen „Transit“ zwischen Ländern und Kulturen steht, aber auch für einen „Transit“ zwischen den Genres, zwischen Hochkultur und populärer: für den zweiten Abend verspricht er knackig laute rockige Rhythmen: „It’s going to be fun“, freut sich Volkov. An diesem Abend wird es gleich zwei Uraufführungen geben: In „Allheilmittel“ von Martin Grütter kommt neben Klavier und großem Orchester auch ein “Hyperpiano” mit elektronischen Klängen und Samples zum Einsatz. „Spinning Lines“ von Martin Matalon ist auch für den Dirigenten ein Abenteuer: „Es verwendet dermaßen viel Elektronik, dass ich mir anhand der Partitur nicht vorstellen kann, wie es klingen wird“, sagt Volkov und das Funkeln seiner Augen verrät, dass er sowas mag.
Volkov hat eine Schwäche für Künstler, für die sich sonst kaum jemand interessiert. „Es war für mich wie ein Schock, als ich erkannt habe, dass Musikgeschichte in erster Linie von kaum bemerkten Menschen mit hoch interessanten Ideen vorangebracht wird, die nur in bestimmten Kreisen bekannt waren und sind“. Einer dieser Menschen ist für ihn Alvin Lucier. In „Tectonics“, einem von Volkov selbst kuratierten Festival im Festival, am Samstag in den Räumen des Nassauischen Kunstvereins in Wiesbaden, gibt Volkov ihm viel Raum neben anderen Künstlern, die Volkov am Herzen liegen und mit denen er teils seit Jahren zusammenarbeitet. Darunter sind Èlaine Radigue, die von der elektronischen Musik herkommend für akustische Instrumente komponiert und Mariam Rezai, die in der Uraufführung von ihrem Stück „Top“ für Plattenspieler, Elektronik und Stimme alle drei „Instrumente“ selbst spielen wird. Zum Konzept von „Tectonics“ gehört auch, dass man eine Konzertdarbietung ungestraft verlassen darf, um eine der teils interaktiven Klanginstallationen auf sich wirken zu lassen.
„Transit“ kann auch eigene Veränderung und Entwicklung bedeuten. Mit freudig funkelnden Augen plädiert Ilan Volkov dafür, dass man Dinge, die man nicht versteht, zunächst als Herausforderung begrüßen und sich mit Beurteilungen zurückhalten sollte. Statt gleich zu sagen: das war toll, das war schrecklich, sollte man tiefer gehen und versuchen, die Ideen zu verstehen, die dahinter liegen. „Das kann lange dauern. Sogar bei den Aufführenden, die über Jahre hinweg das gleiche Stück spielen“, weiß Volkov und das Funkeln seiner Augen verrät, dass ihn das ausfüllt.
DORIS KÖSTERKE
Festivalprogramm und nähere Informationen unter www.cresc-biennale.de.