Haare gelassen: IEMA 19-20 auf Naxos

Haare gelassen

28. Naxos Hallenkonzert

Stipendiaten der IEMA 19-20

 

Live-Musik ist Schwerarbeit. Das Schwerindustrie-Ambiente im Theater Willy Praml in der ehemaligen Naxos-Halle bringt das trefflich zum Ausdruck. Seit Mai 2018 kuratieren Leonhard Dering und Steffen Ahrens die monatlich hier stattfindenden Naxos Hallenkonzerte. Deren jüngstes, das 28., wurde von den aktuellen Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA 19-20) ausgerichtet. Für sie war es das erste Live-Konzert nach zehn von zwölf Monaten ihres Masterstudiengangs an der Frankfurter Musikhochschule. Eigentlich hatten sie, nach einer intensiven Vorbereitungsphase, ab April viele Konzerte im In-und Ausland geben sollen. Manche konnten zu digitalen Projekte umgewandelt werden. Aber was ist ein Livestream gegen die Nähe zu einem engagierten Publikum? Erfreulich viele Abenteuerlustige saßen über die luftige Halle verteilt und lauschten: Fünf Musiker in Seuchenschutzausrüstung schritten aus verschiedenen Ecken der Halle dem Platz unter dem Brückenkran zu, den ein riesiges Emaille-Schild stolz als 1908 bei Krupp in Buckau bei Magdeburg erbaut ausweist. Wie eine Rotte von fünf Sensenmännern tanzten sie über verschieden klingende Untergründe und schlugen mit ihren Stecken meist einen anderen Takt, als mit ihren Absätzen: Eine Aktualisierung des Pas de cinq (1965) von Mauricio Kagel.

Das gekonnte Absatzklappern der Hornistin Ya Chu Yang lenkte die Aufmerksamkeit auf eine Musikergruppe an der hinteren Längsseite der Halle. Die Zuhörer richteten ihren Stuhl oder Sitzkarton neu aus: indem die Stücke auf wechselnden Bühnen stattfanden, wurden die Umbaupausen quasi auf das Publikum delegiert. Outlines (2017) für Flöte, Klarinette, Horn und Live-Elektronik (Klangregie: Lucia Kilger) von Michelle Lou schuf eine dichte, nach innen zielende Atmosphäre mit vielen geräuschnahen und Mehrfachklängen. Die 1975 geborene Komponistin und Kontrabassistin untersucht die Möglichkeiten, wie eine musikalische Form auf ihren Inhalt zurückwirkt. Hier hätte ein genauerer verbaler Wegweiser in Form eines Programmtexts dem Hören ebenso gut getan, wie im folgenden „One Flat Thing, reproduced“ (2010) von Timothy McCormack (1984) für Geige, Oboe (energiereich: Tamon Yashima) und Schlagzeug (an Klangfarbenmelodien erinnernd: Noah Rosen). Timothy McCormack will mit seiner geräuschnahen Musik das physische Verhältnis zwischen einem Interpreten und seinem Instrument zum Ausdruck bringen. Nach der Aufführung hatte der Geigenbogen von Yezu Woo deutlich Haare gelassen.

Selbsterklärend hingegen war „Wege in eine Stimmung“ (2020) des 1989 in Amsterdam geborenen IEMA-Kompositions-Stipendiaten Corné Roos. Bei genauester Intonation schufen Flöte, Klarinette, Horn, Streichquintett (Kontrabass: Jakob Krupp) und Klavier (Tomoki Park) Töne, die im Zusammenklang leichte oder hohe Wellen schlagen, zu stacheligen Monstern anwachsen oder auch zu glatten Flächen ergänzen konnten.

In Vortex temporum von Gerard Grisey (1949-1998) war zu spüren, dass bereits mehrere Generationen von Interpreten einander den Weg gewiesen haben, wie man es realisieren könnte. An diesem Abend waren die „Wirbel der Zeiten“ so rund, wie sie sein müssen, ob im „normalen“ Zeitmaß, oder im gedehnten, in dem Obertonspektren zu Rhythmen werden, oder im extrem komprimierten, in dem man nur noch Farben hört. Großes Kompliment an den Pianisten Thibaut Surugue, an Lina Andonovska (Flöten von Piccolo bis Bassflöte), Leonel Quinta (Klarinette und Bassklarinette), Holly Workman (Violine), Nefeli Galani (Viola), Yi Zhou (Violoncello)! Für den Dirigenten Marc Hajjar auch dafür, dass er in besonders delikaten kammermusikalischen Abschnitten die Akteure ihrem eigenen Zeitgefühl überlassen hat.

DORIS KÖSTERKE

Heiner Goebbels‘ Eislermaterial

„Was soll ich nur machen, daß du nicht ihren dreckigen Lügen traust.“ Wie alle Strophen der „Vier Wiegenlieder für Arbeitermütter“, einem Gemeinschaftswerk von Bert Brecht, Hanns Eisler und Helene Weigel, schließt auch diese mit einem unsentimentalen Punkt. In ›Eislermaterial‹ von Heiner Goebbels, einer Gratwanderung zwischen Hommage und Parodie, sind diese und andere Lieder des 1898 geborenen Komponisten mit der androgynen Gesangsstimme von Josef Bierbichler verbunden. Als das ›Eislermaterial‹ nach zwanzig Jahren Weltreise im Bockenheimer Depot seine Heimkehr nach Frankfurt feierte, kauerte der mittlerweile siebzigjährige Schauspieler zwischen den Musikern, in einer Haltung, die jeder Laie als sangesfeindlich definieren würde, den Notentext fixierend, als läse er ihn zum ersten Mal. Ob Absicht oder nicht: es passte. Denn Goebbels spielt hier mit der Poesie des Abstands.

Die Musiker saßen in Hufeisenform um die menschenleere Bühne, als ließen sie vor geduldetem Publikum das einst gemeinsam mit Heiner Goebbels Entwickelte Revue passieren, überwiegend skeptisch distanziert. Doch im vierten der oben erwähnten Wiegenlieder mit seinem weitgehend auf die Gegenwart übertragbaren Text, spielten sie sich in echte Rage.

Vieles wirkte so frisch, als wäre es improvisiert. Dabei wurde es mittlerweile ausnotiert, weil viele der damals beteiligten Ensemblemitglieder nicht mehr dabei sind. Tatsächlich improvisiert waren jedoch die mitunter an wütendes Schimpfen erinnernden Bassklarinetten-Furiosi von Matthias Stich.

Goebbels‘ Affinität zu Eisler kam aus dem Satz: „Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts!“. In Collagen aus Tondokumenten ließ er die Stimme des Vaters der Arbeiterchöre tönen: „die Leute müssen sich ändern, vielleicht auch durch die Musik“ und ließ dessen „alten Kämpfe“ aufleben, „vor allem gegen Dirigenten“.

Das Fehlen eines Dirigenten machte die Musiker zu den eigentlichen Darstellern in diesem so genannten „szenischen Konzert“. Wie in Thoreaus Utopie von einer konstruktiven Anarchie trug jeder von ihnen an der Verantwortung für das Ganze. In direkter Verständigung koordinierten sie sich in diffizilen Kammermusik-Adaptionen, in mehrlagigen musikalischen Botschaften, in Zweifel schürenden Variationen über Eislers Solidaritätslied, oder im scharfen Holzbein-Rhythmus der „Mutter Beimlein“.

Zwischen musikantischem Plätschern, dramaturgischen Knalleffekten und verhaltenem musikalischem Groove entstand eine dichte Atmosphäre fern jeder Agitationspropaganda, ein Schillern und Schweben, in dem jeder frei war, seinen eigenen, von der poetischen Fülle angestoßenen Gedanken zu folgen. Bis zum überraschenden, innerlich lange nachhallenden Schluss, (mit dem Lied „Und endlich stirbt die Sehnsucht doch“ auf einen Text von Peter Altenberg) „… daß man doch nicht froh ist“.

DORIS KÖSTERKE