Pianistin Julianna Awdejewa

Der Freund ist tot. Scheu nähert sich der Hinterbliebene dessen Zeichnungen und Gemälden. Aufgeregt, verunsichert, voll Schmerz, auch Angst, mit deutlicher Überwindung. In ihrer Interpretation der „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski spürt die Pianistin Julianna Awdejewa all diesen Facetten nach: gründlich, unsentimental, mit enormer dynamischer Bandbreite und einem einzigen, den gesamten Zyklus überformenden Spannungsbogen.

Ihr Konzert bei den Burghofspielen im Wiesbadener Christian-Zais-Saal hatte sie mit neun Werken von Chopin begonnen. Ihre Eröffnung mit dem posthum veröffentlichten Nocturne cis-Moll, aus einer konzentrierten Stille und Verhaltenheit zu einem bedrängenden Fortissimo und einem wohldosierten Rückzug ins kaum noch Hörbare zeigte, dass es ihr nicht um die Gestaltung leicht konsumierbarer Oberflächen für schmachtende Damen jeglichen Geschlechts ging, sondern um den sperrigen Gehalt darunter, etwa um die tonalitätsfernen Mixtur-Klänge im Prélude cis-Moll op. 45, das sie dem Scherzo cis-Moll Nr. 3 op. 39 voranstellte, über dessen gespenstische technische Schwierigkeiten sie souverän erhaben war. Bitter lächelte sie über die inneren Dialoge in der Mazurka fis-Moll Nr. 3 op. 59, die Polonaise fis-Moll op. 44 entwickelte sich zum Teufelsritt, dem man im vorletzten Satz der „Bilder einer Ausstellung“ wieder begegnete.

Im ersten Bild, Gnomus, stand weniger das Komische im Vordergrund als die bange Frage des Freundes an den Verstorbenen, ob er sich vielleicht aus irgendwelchen Gründen genauso gefühlt habe. „Il vecchio castello“ war in der Interpretation von Julianna Awdejewa (oder Yulianna Avdeeva, wie die Umschrift von Юлианна Андреевна Авдеева im angelsächsischen Sprachraum lautet) keine harmlose Romanze, sondern tiefer Schmerz, aus der eine besonders energische „Promenade“ zu den frech im Garten der Tuilerien spielenden Kinder, als zeigten sie der Künstler selbst im Kampf mit seinen Erziehern, über die er sich schließlich hinwegsetzt, um, im Bild „Der Ochsenkarren“, mit mächtiger Entschiedenheit seinen beschwerlichen Weg zu gehen, der über das Ballett der Küken in ihren Eierschalen, über das bedrohliche Gespräch des reichen „Samuel“ mit dem armen zittrigen „Schmuÿle“ und den bunten Markplatz von Limoges schließlich, in den römischen Katakomben, die Fragen nach den Letzten Dinge stellt. Die Todesangst angesichts der in Tritonus-Rufen über ihr sicheres Opfer triumphierenden Hexe Baba-Jaga geht fast unmerklich in die Erlösung über, die Mussorgski mit der Skizze des Verstorbenen für ein noch zu bauendes Tor von Kiew verband: als Kulmination alles Gewesenen in fatalistischer Gelassenheit und der Ruhe in einem großen Glaubensbekenntnis. Die beiden Zugaben waren die Mazurka op. 7 Nr. 3 und die As-Dur-Polonaise von Chopin.

DORIS KÖSTERKE

15.8.2018

Pianistin Elisabeth Brauß

Klavier Soirée bei den Burghofspielen

 

Das Programm erinnerte an einen seit fünfzig Jahren unberührten Schallplattenschrank. Doch in der ersten Klavier Soirée bei den Burghofspielen gelang es der erst 23-jährigen Pianistin Elisabeth Brauß, seine Geister mit neuem Leben zu erfüllen.

Mozarts Zweite Klaviersonate KV 280 ging sie wunderbar trocken an, mit spürbar gut durchdachten artikulatorischen Feinheiten und unerschütterlichem Blick für das Wesentliche, während sie das Thema des ersten Satzes im Rankenwerk der Spielfiguren Verstecken spielen ließ.

Beethovens „Appassionata“ begann sie wie beiläufig, um die darin verschlüsselten inneren Welten mit allen souverän beherrschten Mitteln der Virtuosen-Trickkiste, vom zartesten Seidenklangfaden zum mächtigen Tastendonner, umso wirkungsvoller auferstehen zu lassen, ohne sich jemals darin zu verlieren. Überzeugend ließ sie den in tiefsten Bassregionen lauernden Konfliktstoff auch dann noch weiterbrodeln, wenn sie ihn, wie am Ende des ersten Satzes, unter flimmernden Terzen verbarg.

Im Choral des zweiten Satz blätterte sie sehr behutsam und allmählich die einzelnen in ihm verborgenen Seiten auf. Dass die normalerweise im Diskant aufblitzenden Spitzen merkwürdig verwaschen klangen, schien an der Raumakustik oder an der Intonation des Flügels zu liegen. Als der Choral am Ende des zweiten Satzes wieder erschien, schienen die zuvor erweckten Gespenster unter seiner Decke noch weiter zu zappeln, um im dritten Satz entfesselt ihren wilden Hexensabbat zu feiern.

In Robert Schumann Kinderszenen gefielen der Überschwang in „Glückes genug“, die Distanz zur „Träumerei“ und das trefflich vermittelte Wenn-ich-erst-groß-bin-Allmachtsgefühl im „Ritter vom Steckenpferd“. Im abschließenden „Faschingsschwank aus Wien“ op. 26 von Robert Schumann schmunzelte man über die verkleidete Zitate und freute sich auf das, was die junge Pianistin in ihrem späteren Leben aus dem vergleichsweise amorphen Werk noch herausholen würde. In ihrer Zugabe, einer Romanze von Clara Schumann, ließ Elisabeth Brauß die unerträgliche Sehnsucht und die massive Bedrängnis einer Frau empfinden, die den falschen Mann geheiratet hatte, bevor sie „den Richtigen“ traf.

DORIS KÖSTERKE

01.08.2018