„Mach die Augen zu!“ – Dieser eindringliche Rat bezog sich im großen Saal der Alten Oper weniger auf Martha Argerich und Sergei Babayan, sondern auf den Notenwender.
Dank der parallel versetzten Aufstellung der beiden Flügel – beide Pianisten blickten in die gleiche Richtung – konnte man als Zuhörer mit einem Blick die verschiedenen Herangehensweisen verfolgen: Sergei Babayan als lustvoll Kämpfender, die gewölbten Hände meist nah an der Tastatur, während der Rest seines Körpers der Freude, dem Drängen und Drohen, wie der Tanzwut des Gespielten nachgab. Martha Argerich hingegen als auch im rasenden Tempo nebst Handgemenge mit dem Notenwender noch in sich ruhendes Kraftfeld.
Ökonomie der Bewegungen
„Mach die Augen zu!“, mahnten Über-Ich und Sitznachbarin im Chor. Aber es war doch zu spannend, die Technik von Martha Argerich zu verfolgen, deren Anschlagsformen mit ihrer Vielfalt ebenso beeindruckten, wie durch die Ökonomie der Bewegungen, dem Ausnutzen von Ergonomie und Schwerkraft für den klanglichen Ausdruck und dem Gesamteindruck scheinbarer Mühelosigkeit und Souveränität, auch dann, wenn die Hand des Notenwenders beim Glattstreichen der Seite den Notentext verdeckte und die Virtuosin sie wegfegen musste, um zurückzublättern.
Die beiden Pianisten feierten ihre alte Freundschaft zunächst mit einem von Sergei Babayan selbst erstellten Konzentrat der hoch komplexen Partitur zu „Romeo und Julia“ von Sergei Prokofjew für zwei Ausnahme-Klaviervirtuosen, die sich von bestehender Literatur unterfordert fühlen.
Morphogenetisches Feld
In strategisch wichtigen Momenten musste Babayan sich zu seiner Partnerin mehr als halb umdrehen. Im überwiegenden Verlauf des Konzertes erfolgte die Synchronisation über Kanäle, die man mit einem morphogenetischen Feld vergleichen möchte. In Mozarts Sonate D-Dur für zwei Klaviere KV 448 erlebte man, was man zuvor vermisst hatte: ein lebhaftes Mit- und Gegeneinander Agieren und Reagieren in mal trocken perlender, mal ebenso angemessen singender Tongebung.
Die hohe Kunst des Notenwendens
Der letzte Teil des Konzerts widmete sich wiederum der symphonischen Pianistik, wiederum in einem von Sergei Babayan destillierten Konzentrat aus orchestralen Bühnenwerken von Sergei Prokofjew, den Schauspielmusiken zu „Hamlet“ und „Eugen Onegin“, der Filmmusik zu „Pique Dame“ und der Oper „Krieg und Frieden“, voller klangmalerischer und farblicher Effekte. Wieder gewann man den Eindruck eines perfekt synchronisierten und hoch virtuosen Nebeneinanders. Als die Darbietung wegen einer verschlagenen Seite unterbrochen werden musste fragte man sich, warum der Kaugummikauende sich nicht wenigstens an seiner Kollegin orientierte, die ihre Aufgabe für Sergei Babayan vorbildlich erfüllte, frühzeitig sich versichernd, dass sie nicht mehr als die nächstfolgende Seite im Griff hatte, die sie nach und nach so herüberzog, dass der Pianist sowohl den Schluss der alten wie den Beginn der neuen im Blick hatte? Bei der Zugabe aus der Suite Nr. 2 op. 17 von Sergei Rachmaninow machte man gern die Augen zu.
DORIS KÖSTERKE