Tastenlöwin Lise de la Salle

Mit packender Präsenz, stupender Virtuosität, überragender Pianistik und reflektierter Musikalität begeisterte Lise de la Salle beim Rheingau Musik Festival im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg. Der Bogen ihres Programms fußte auf Beethoven, begann in der Sonate „Les Adieux“, die er im Alter von vierzig Jahren geschrieben hatte und endete mit seiner letzten Klaviersonate op. 111. Eingebettet waren Werke von Franz Liszt.

Leise und innig begann Lise de la Salle die Takte unter dem „Lebe wohl“, das Beethoven seinem Schüler (und wichtigsten Mäzen) in die Noten geschrieben hat, um im anschließenden Allegro dermaßen an Tempo zu gewinnen, dass es im nach zwölf Takten einsetzenden Laufwerk schien, als liefen ihre Finger in eigenem Tempo davon. Als das auch in der Wiederholung und an Parallelstellen in der Durchführung geschah, ahnte man die Aufregung der Pianistin. Sie schien jedoch aus diesem leichten Entgleiten zu Beginn den entscheidenden Adrenalin-Kick für den Rest des Abends empfangen zu haben und spielte fortan mit äußerster Wachheit und Selbstbeherrschung. Im grollenden Beginn von Franz Liszt Ballade für Klavier Nr. 2 h-Moll S 171 ahnte man, dass der Pianistin ein noch viel düstereres, sich selbst aufschaukelndes Klangbild vorschwebte. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal an diesem Abend fragte man sich, ob ihr Anschlag an diesem Flügel nicht ein impulsiveres Abfedern erfordert hätte. – Eine Frage, keineswegs ein Besserwissen, motiviert durch die kämpferische Musikzierhaltung von Lise de la Salle, die ihre Zuhörer unwillkürlich zu tief innerlich beteiligten Mitkämpfern machte.

In den ausgewählten Kompositionen von Franz Liszt begegnete man einem Komponisten, der am Schaffen seiner Kollegen sehr interessiert und davon inspiriert war. Sein „Liebeslied“ nach Robert Schumanns „Widmung“ und „Isoldens Liebestod“ sind auskomponierte Interpretationen. Wenn der Tristan-Akkord auf Liszt zurückgeht, ohne dass Liszt auf Wagner böse war, muss man auch nicht fragen, ob Liszt sich für Harmonies poétiques et religieuses S.173 bei Chopin bedient hat. Im Klanggemälde „St François de Paule: marchant sur les flots“ (aus Deux Légendes, S 175) meinte man auch Franz Schuberts Charakterisierungen von Wasser zu hören.

In Lise de la Salles Interpretation von Beethovens Opus 111 sah man einen Visionär vor sich, der ahnt, dass das, was er will, nicht mehr in Noten auszudrücken ist. Sie deutete sie an, dass Beethoven Kommendes vorausgehört haben mochte, etwa die Poesie pointilistischer Unschärfen oder die Vitalität eines Ragtime. Musikalisch wäre der ins Jenseits zielende Schluss der Beethovensonate ein trefflicher Abschluss gewesen. Aber das Publikum erklatschte sich noch zwei Zugaben: Debussys „La Danse de Puck“ und einen Rausschmeißer von Rachmaninoff.

DORIS KÖSTERKE
02.08.2019