FRANKFURT. Einsamer Waisenjunge mit Herz für Kirche und Clochards startet internationale Karriere als Komponist und wird im Alter von 34 Jahren von einem Strichjungen ermordet. So könnte man das Leben des Kanadiers Claude Vivier (1948-1983) zusammenfassen. Ihm widmete das Ensemble Modern sein jüngstes Werkstattkonzert Happy New Ears, das unter Corona-konformen Bedingungen im Großen Saal der Musikhochschule stattfand. Im Mittelpunkt stand die knapp halbstündige, von Dantes Göttlicher Komödie inspirierte Komposition Lettura di Dante (1974) für Kammerensemble und Sopran. Solistin war Sarah Maria Sun, die mit wandlungsfähigem Schönklang von voller Körperlichkeit zum Laserstrahl, von Fata-Morgana-ähnlichen Vibrato zum Seidenfaden ebenso begeisterte, wie Dirk Kaftan als Dirigent.
Herz im Schuh
Der Musikwissenschaftler Stefan Drees fand anschauliche Worte für die Besonderheit der Komposition: Als Schüler von Karlheinz Stockhausen hatte Claude Vivier dessen Komposition „Mantra“ analysieren müssen, die konsequent aus einer zugrunde gelegten musikalischen „Formel“ abgeleitet ist. Nach ungefähr diesem Vorbild hat Vivier auch Lettura di Dante aus einer Keimzelle entwickelt, einer Melodie, die Vivier nach eigenen Angaben den ganzen Tag über vor sich hinsang, bis sie aus sich heraus Form gewann. Beim Blick auf das Notenbild dieser Melodie staunte man über die minimalistische Faktur: Manche Elemente scheinen aus einem folkloristischen Jodeln destilliert. Im Zentrum steht ein langer hoher Liegeton, dem nach einer Pause, einen Halbton tiefer, ein zweiter folgt: Abstrakter geht es nicht. Aber so, wie Sarah Maria Sun das sang, zog es einem die Schuhe aus. Weil das Herz hineingerutscht war.
Rituale und ironische Distanz
Mehrdimensional aufgefächert wie die zugrundeliegende Melodie ist auch die Sprache: der italienische Text ist manchmal klar verständlich, meist jedoch auf Vokalfarben reduziert, mal durch eine Fantasiesprache, durch Morsezeichen und Gebärdensprache erweitert.
Vieles erinnert an spirituelle Rituale. Aber die erfahren gleichzeitig eine ironische Distanzierung. Etwa, wenn man nach einem wiederholten Klangholz-Signal eine dritte Wiederkehr erwartet, die jedoch so lange auf sich warten lässt, dass man unwillkürlich lacht, wenn sie doch noch eintritt. Oder wenn die Sopranistin die (bei Dante so nicht genannte) Quintessenz, „ho visto dio“, ich habe Gott gesehen, nicht drei oder sieben oder zwölf, sondern dreizehn Mal wiederholt.
Schönheit
Viviers instrumentale Klangsprache birgt ungewöhnliche, aus erweiterten Spieltechniken zusammengesetzte Klänge. Das Ensemble spürte sensibel ihrer Schönheit nach.
DORIS KÖSTERKE
16.10.2020