In Vain von Georg Friedrich Haas

 

In vain von Georg Friedrich Haas gilt als musikalisches Meisterwerk des einundzwanzigsten Jahrhunderts. In diesem 2000/02 geschriebenen Orchesterstück 1953 geborene österreichische Komponist Österreicher hat darin sein Ziel erreicht, „Emotionen und seelische Zustän­de von Menschen so zu formulieren, daß sie auch von anderen Menschen als die ihren angenommen werden können“. Durchkomponiert sind darin nicht nur die Stimmen von 24 Instrumenten, sondern auch die Beleuch­tung: zwei Zeitstrecken innerhalb des rund siebzig Minuten füllenden Werks werden in völliger Dunkelheit aufgeführt, in der man auch nach Eingewöhnung die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht sieht. Um diese besondere Situation schaffen zu können, zog das Ensemble Modern zur Aufführung dieses Werkes von der Alten Oper in die Union Halle um. „Im Mozart Saal hätten wir in einer grünen Soße aus Notausgangbeleuchtungen geschwom­men“, sagte Ensemble-Modern-Geschäftsfüh­rer Christian Fausch dazu.

Haas ist überzeugt, dass die Grausamkeit der NS-Zeit „nur möglich war, weil die Nazis ihr Mitgefühl so massiv unterdrückt haben“. Eigene Gefühle zuzulassen, zu kultivieren und im Gegenüber zu erwecken ist für ihn eine politische Aussage. Daher kann man sich von seinem Werk emotional packen lassen, ohne etwas über seine Machart zu wissen. Doch das Einfüh­rungsge­spräch zwischen Christoph Dennerlein und dem Dirigenten Jonathan Stockhammer führte tiefer in das unkonventionelle Stück ein. Etwa auf das Paradoxon, dass hohe Geschwindigkeiten den Eindruck erwecken, dass die Zeit still steht, während man bei langsamen Bewegungen wie mit dem Vergrößerungsglas in die Klangwelt eintaucht und empfinden kann, wie bei Überlagerung verschiedener Frequenzen auch Töne entstehen, die gar nicht gespielt werden und Klangfarben entstehen, die man mit keinem der spielenden Instrumente in Verbindung bringt. Oder darauf, wie neonazistische Strömungen es als vergeblich – in vain – erscheinen lassen, wenn man sich selbst vom Gedankengut seiner Vorfahren befreit zu haben meint. Man erfuhr auch vom beabsichtigt-reibungsreichen Nebenein­ander zweier Tonsysteme, dem gleich­schwe­bend temperierten, nach dem etwa Klavier, Akkordeon oder Marimba gestimmt sind (Stockhammer bezeichnete diese Stimmung als „H-Milch-Entscheidung“) und dem „natürlichen“ Tonsystem, das aus dem Obertonspektrum von Klängen abgeleitet ist und das man etwa in der rein durch Überblasen hervorge­brachten Obertonskala von Blasinstrumenten findet. Die Streicher standen vor der Herausforderung, zwischen beiden Tonsystemen zu wechseln. Ein kompositorisches Verdienst von Haas ist es, unter den vielen möglichen Schwebungen meistens die angenehmen herauszufiltern und nur zu besonderen Ausdruckszwecken auf die schmerzhaften zurückzugreifen: Weil es um Nazis geht, hat auch die Gewalt einen Platz in diesem Stück. Ausgelöst durch die Musik sah man vor dem inneren Auge die Mistgabeln autochthoner Fremdenfeinde auf sich gerichtet. Doch insbesondere in den Dunkelphasen – die erste dauerte rund sechs Minuten, die zweite rund zwanzig – empfand man eine tiefe innere Zentrierung und sogar ein Gefühl von Schwerelosigkeit.

Die musikalische Sprache führte einen Zustand organisch in den nächsten über: Irritation, Suche nach Halt, Gewalt, Distanzierung, innerer Friede, neue Unsicherheit, neues Aufkeimen von Hass und sein abrupter Abbruch, als seien die Neonazis einem plötzlichen Herztod erlegen.

Nicht enden wollender Beifall zeigte eine tiefe Dankbarkeit für das Erlebnis. Ein besonders dickes Lob den Musikern, die in ständig wechselnden Tempi mit vollem Einsatz bei der Sache waren und ihre Parts in der Dunkelheit nicht nur auswendig gelernt, sondern auch in hohem Maße eigenverantwortlich durchgezogen haben.

Eine Frage noch: Können die Abonnementskonzerte nicht auch künftig in der sehr viel passenderen Atmosphäre der Union Halle stattfinden?

DORIS KÖSTERKE