Die diesjährigen Darmstädter Ferienkurse schlossen mit einer Sternstunde orchestraler Klangkultur. Dafür hatte sich das hr-Sinfonieorchester um viele externe Spitzenmusiker, etwa aus anderen großen Orchestern und dem Ensemble Modern erweitert. Geleitet wurde es von Pierre Bleuse, dem neuen Chefdirigenten des Pariser Ensemble intercontemporain.
Die Musiker, allein 93 im Orchester, füllten fast ein Drittel der Sporthalle der Lichtenbergschule, bemerkenswert aufmerksame Menschen aller Altersstufen den Rest.
String Quartet and Orchestra von Morton Feldman
Das Eröffnungswerk, „String Quartet and Orchestra“ von Morton Feldman war, anders, als man es in einem Konzert mit zeitgenössischer Musik erwarten würde, schon fünfzig Jahre alt und voller Schönklang. Den innersten Kreis inmitten des Orchesters bildete das Frankfurter „Fabrik Quartett“. Es hat sich aus Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) des Jahrgangs 2021/22 formiert und schon Preise gesammelt, bevor seine Mitglieder, die Geiger Federico Ceppetelli und Adam Woodward, Bratscher Jacobo Diaz Robledillo und Cellistin Elena Cappelletti, ihr Studium abgeschlossen hatten. Hier gaben sie leise melodiöse Impulse, die das Orchester mit ebenso leisen Klangschatten beantwortete. So reagierte etwa die Oboe auf einen Geigenton und imitierte dabei genau jene Sprödigkeit, die ihm in diesem Moment eigen gewesen war.
Klang gewordener Respekt
Die zurückgehaltene Lautstärke wirkt insgesamt wie Klang gewordener Respekt. Eine Aktualität des Stücks bestand in der Utopie von Achtsamkeit: Wann immer man zu wissen glaubte, wie sich das Stück weiter entwickelt, wurden diese Erwartungshaltungen auf so behutsame wie erfrischende Weise enttäuscht, besonders schön gegen Ende, als Cellistin Elena Cappelletti das etablierte Metrum in genau ausgerechneten Proportionen dehnte. Dabei entfaltete sie eine magnetische Ausstrahlung, die nur gelingt, wenn man sich seiner tragenden Rolle voll bewusst ist.
Konzert für Turntables und Orchester
Gegenüber Feldmans wie heimlich verhaltener Klanglichkeit mit einer eher nach innen gerichteten Intensität wirkten die folgenden tänzerisch extrovertierten „Six scenes for turntables and orchestra“ von Mariam Rezaei und Matthew Shlomowitz geradezu quietschbunt. Schön anzusehen war der Gesichtsausdruck von Mariam Rezaei an den Turntables, etwa ihr Schmunzeln, als sie zwischen geräuschnahen Aktionen eine klare Tonhöhe anpeilte, die in der Celesta eine überraschende Entsprechung fand. Die Uraufführung dieses Auftragswerks fand besonders bei Jüngeren viel Beifall.
„Orion“ (2002) von Kaija Saariaho
In der dreiteiligen Komposition „Orion“ (2002) von Kaija Saariaho konnte man die Energieströme zwischen den intensiv aufeinander lauschenden Musikern geradezu sehen. Und immer wieder flammte hier und da ein beglücktes Lächeln auf.
Gegen Ende des ersten Teils, „Memento mori“, rissen im Orchesterklang regelrechte Spalten auf, aus denen es wie aus sehr fernen Welten hallte.
Im zweiten Satz, Winter Sky, gab ein vielfarbig glitzernder orchestraler Klangteppich hier und da bezaubernden Soli Raum. Die „Geschichten“, die etwa Konzertmeister Alejandro Rutkauskas oder der junge Oboist Armand Djikoloum darin „erzählten“, hatten hohen künstlerischen Eigenwert. Aber auch das Cellosolo von Fritjof von Gagern, der sonst im Nationaltheater Orchester Mannheim spielt, ließ aufhorchen. Bezaubernd war die spannungsvolle Verhaltenheit des Klarinettisten Michael Schmidt, Gastmusiker vom Staatsorchester Darmstadt und auch die des Trompeters Jón Vielhaber. Er ist neuer Solo-Trompeter im hr-Sinfonieorchester im Probejahr und dies war sein erstes Konzert. Herzlichen Glückwunsch!
Im dritten Satz, „Hunter“, staunte man, wie organisch sich einzelne Impulse im Orchester fortsetzten.
Die 1952 geborene Finnin wurde in ihrem Heimatland nicht zum Kompositionsstudium zugelassen: Sie würde ja doch nur heiraten und Kinder kriegen. So kam sie nach Freiburg, wo Brian Ferneyhough und Klaus Huber die Hochsensible zu schätzen und zu fördern wussten. Anfang der 1980er Jahre ging sie ans IRCAM und Paris wurde ihr zum Lebensmittelpunkt. Dort ist sie am 2. Juni dieses Jahres an einem Hirntumor gestorben.
Emotionale Überzeugungsarbeit
Nach dem Konzert schwärmten Orchestermitglieder auch von den angenehmen Proben mit Pierre Bleuse. Er habe zunächst teils harte emotionale Überzeugungsarbeit geleistet und den Musikern dann immer mehr Zusammenhänge erschlossen, erzählte Armand Djikoloum. Bleuse hat die Spieler zu Mitschaffenden gemacht. – Mit überragendem Erfolg!
DORIS KÖSTERKE
19.8.2023
Vergleiche auch „Feindbild Entertainment„.