Das Gefühl der Desorientierung, „die einen befällt, wenn man nicht in seinem Heimatland ist“ prägte die Komposition „Dépaysement“ (2018) von Yongbom Lee. Der 1987 in Korea geborene Komponist war einer der Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA), die sich derzeit mit insgesamt drei Konzerten in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst von Frankfurt verabschieden, wo sie, in enger Zusammenarbeit mit den Musikern des Ensemble Modern, ihren Masterstudiengang absolviert haben und manchem Konzertgänger ans Herz gewachsen sind. „Depaysement“, schreibt Lee, sei „ein generelles Phänomen unserer Gesellschaft“: Immer mehr Menschen fühlen sich bisweilen als Fremde im eigenen Lande, weil Dinge, „die unserem Leben von Anfang an mitgegeben werden“, zunehmend an Bedeutung verlieren. Von Lautaro Mura Fuentealba dirigiert entwickelte sich das Stück kaum merklich aus einer gespannten Stille. Erinnerte der erste Satz noch an ein unsicheres Tasten, trug den zweiten Satz ein befreites rhythmisches Pulsieren.
Für zwei größer besetzte Werke dieses Abends, „a su sinuoso paso“ (2018) von Javier Quislant und „Vaporised Tivoli“ (2010) von Anders Hillborg arbeitete das IEMA-Ensemble erstmals mit dem Ensemble des Ulysses-Netzwerks zusammen. Das vom Kulturprogramm der Europäischen Union unterstützte Netzwerk hat die wandernden Künstler im 18. Jahrhundert zum Vorbild, die die über die verschiedensten Kulturen verstreuten besten Meister ihrer Zeit aufsuchten, um mit ihnen zu arbeiten und von ihnen zu lernen. In diesem Sinne bietet das ULYSSES Netzwerk jungen Musikern eine Fülle von Arbeits- und Auftrittsmöglichkeiten, damit sie ihre Kreativität steigern und Kontakte für ihr weiteres Berufsleben knüpfen können.
Im Rahmen dieses Netzwerks hatte die IEMA-Ensemble seine Abschlusskonzerte bereits auf der Gaudeamus Muziekweek in Utrecht erproben können: auch Lees Stück hatte dort seine Uraufführung erlebt.
Eine Art Gastgeschenk des Ulysses-Ensembles war die von Lucas Vis dirigierte Deutsche Erstaufführung von „5 Things That Really Matter in 2018“ von Mikolaj Laskowski: ein Stück für elektronisch verstärkte Instrumente im teils szenischem Dialog mit elektronischen Zuspielungen. Dritte Deutsche Erstaufführung des Abends war „a su sinuoso paso“ (2018) von Javier Quislant, das vertraute symphonische Idiome aufkeimen ließ und ihnen widersprach, als gelte es, ihnen eine demonstrative Offenheit entgegenzusetzen. Die jungen Musiker gestalteten ihren jeweiligen Part aus einem sicheren Gefühl für das Ganze. Ihre große Begeisterung und ihre vorbehaltlose Hingabe schufen Vertrauen: Auch in „Flurries – six players“ (1997) von Brian Ferneyhough hörte man ihnen gerne und mit Genuss zu.
DORIS KÖSTERKE
10.9.18