Was passiert mit einem bekannten Werk, wenn man es in einem ungewohnten Zusammenhang stellt? Der Klavierabend von Alexandre Tharaud im Kleinen Haus des Darmstädter Staatstheaters gipfelte in Beethoven Sonate op. 110, begann mit Werken des französischen Barock und skizzierte mit einer eigenen Klavierbearbeitung von Mahlers „Adagietto“ aus dessen 5. Sinfonie die Entwicklung, die die Musikgeschichte nach Beethoven genommen hat.
Mit der zugrundeliegenden Fragestellung im Hinterkopf hörte man bereits die experimentellen und fantasievollen Charakterstücke von Jean-Philippe Rameau (u.a. „Le Rappel des oiseaux“ (1724), Suite a-Moll um 1729/30), Claude Balbastre („La Suzanne“) und Jacques Duphily („La de bel Ombre“, „La Pothouïn“) im Hinblick auf Beethovens Spätwerk, etwa in der Experimentierfreude, in organischen Entwicklungen und spontanen Ausbrüchen oder darin, wie zwei verschiedene Gedanken ineinander verzahnt nebeneinander herlaufen, bis aus scheinbar Nebensächlichem ein neues Wesentliches wird.
Wie organisch entwickelte sich die melodisch-harmonische Substanz in Rameaus Prélude zur Suite a-Moll (1709) aus einer Triller-Ursuppe, um sich dann, von im Legato weit aussingenden Spannungsbögen getragen, bei sparsamen Pedalgebrauch so durchsichtig wie eine Natursteinmauer dahinzuziehen, aus der gelegentliches Verzierungswerk hervorschießt, wie Eidechsen oder blühender Bewuchs.
Wer das Glück hatte, nah genug am Pianisten zu sitzen, erlebte im Miteinander von Mimik, Gesten und Klängen ein sprühendes Feuerwerk der Fantasie, mit großer Lust am Überraschenden.
Indem das Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie kaum etwas „sagt“, wird es zur Projektionsfläche für das, was sich in einem Hörer (m/w/d) abspielt, während er rund zwölf Minuten lang im Wesentlichen immer wieder die gleiche Melodie hört. In Tharauds Bearbeitung klang es stellenweise wie Liszt.
Auch in der krönenden Beethoven-Sonate schien Alexandre Tharaud niemand, der „sich ausdrückt“, sondern einer, der sich von den Stücken, die er spielt, immer wieder neu beeindrucken lässt und die Freude teilt, die es ihm bereitet, erfrischend unsentimental mit ihnen zu spielen.
Erste Zugabe war ein unprätentiöser Chopin-Walzer. In der zweiten, der Scarlatti-Sonata K141, trieb er seine stupende Virtuosität, seine Lust an der Choreographie der Hände und seinen Spielwitz noch einmal auf die Spitze.
DORIS KÖSTERKE
9.1.2020