Assange – Fragmente einer Unzeit

FRANKFURT. Mit ihrer Komposition Assange – Fragmente einer Unzeit (2019) rückt Iris ter Schiphorst nicht zum ersten Mal einen politischen Aspekt in den Fokus ihrer Arbeit. Um der Tragweite des Falles Julian Assange gerecht zu werden, der inhaftiert wurde, weil er über Wikileaks geheime Dokumente der USA zu deren Kriegen in Afghanistan und im Irak verfügbar machte, tat sich das Ensemble Modern mit der Frankfurter Initiative „Der utopische Raum“ zusammen und verband seine Deutsche Erstaufführung der Komposition im Dachsaal der Deutschen Ensemble Akademie mit Wortbeiträgen zum Stand der Freiheit von Wort, Kunst und Presse als Pfeiler der Demokratie.

Umrahmt wurde die Matinee von zwei Improvisationen des Ensemble Modern: Die erste zeigte ein bedrängtes, schließlich durch einen Pfiff aus der Flöte befreites Individuum, dargestellt von der Sopranistin Sarah Maria Sun. Die zweite, ebenso programmatisch, eine basisdemokratische Utopie, in der jeder sich soweit ungehemmt entfalten kann, als er andere nicht stört.

„Angeklagt ist das freie Wort“

Zu Wort kam unter anderem Wikileaks-Mitbegründer Daniel Domscheit-Berg. Er stellte die ursprüngliche Idee der Internet-Plattform als „bedingungslos der Wahrheit verpflichtet“ heraus. Assanges unreife Persönlichkeit dürfe nicht über seine eigentliche Leistung hinwegtäuschen. Er gehört auf keinen Fall an die USA ausgeliefert, das hieße einen für die Pressefreiheit fatalen Präzedenzfall schaffen, sondern freigelassen. „Angeklagt ist das freie Wort“, pointierte Moderator Ilija Trojanow.

Kein Hort der Menschenrechte

Laut Moussa Tchangari, dem Generalsekretär der nigrischen Journalistenvereinigung, dient etwa der Kampf gegen Cyberkriminalität als Vorwand, Kommunikation zu überwachen. Franziska Grillmeier berichtete aus Lesbos, dass Corona als Vorwand diene, sie als Journalistin von den Flüchtlingslagern fernzuhalten. Laut Barbara Unmüßig, der Vorsitzenden der Heinrich Böll Stiftung, verspielt die EU durch ihre Abwehr von Migranten „ihre Glaubwürdigkeit als Hort der Menschenrechte“. Publizist Stephan Hebel sieht die Freiheit der Medien darin beschränkt, dass sie aus wirtschaftlicher Not ihre Freiheit oft ungenutzt lassen. Er sähe die Medien lieber in den Händen der Gesellschaft und betonte: nicht des Staates.

Bestraft wird der Whistleblower, nicht die Straftat

Laut Investigativ-Journalistin Sylke Gruhnwald stehen in westlichen Demokratien zunehmend die Geschäftsinteressen einzelner dem Gemeinwohl entgegen. Sie selbst hat sich unter anderem über zehn Jahre lang mit der Whistleblowerin in einem Lebensmittelskandal beschäftigt und die Quintessenz als «Whistleblowerin / Elektra» im Zürcher Theater am Neumarkt auf die Bühne gebracht. Wie einige Vorredner beklagt auch sie, dass man eher einen Whistleblower verurteilt, als die eigentliche Straftat: Durch Julian Assange wissen wir über Kriegsverbrechen und durch den Mut eines Bankmitarbeiters wurde der Cum-Ex-Skandal aufgedeckt.

Bedrohendes Kollektiv

Iris ter Schiphorst thematisiert genau diesen Mut eines Einzelnen, in dieser Aufführung der Sopranistin Sarah Maria Sun, gegenüber einem Kollektiv. Bombardiert von Propaganda und betäubt von Marschrhythmen, präzise dirigiert von Corinna Niemeyer, lässt sie die Sopranistin um Worte ringen. Als „eingekerkert“ beschreibt die Komponistin sie im späteren Gespräch. Sarah Maria Sun stellt auch mit pantomimischen Mitteln ihre Sprachlosigkeit dar, die schließlich doch in Kantilenen aufblüht, vom Ensemble übertönt, aber nicht erstickt. Das wiederholte Dreitonmotiv gegen Ende schimmert wie Hoffnung durch das bedrohliche Schluss-Crescendo, der eingeblendete Wortfetzen „international community“ schien eine Richtung zu weisen, die auch in den Wortbeiträgen immer wieder angeklungen war: die Hoffnung auf erfolgreichen Protest in den sozalen Medien,  das mächtige Weiße Rauschen der Gesellschaft.

DORIS KÖSTERKE
11.4.2021