Wenn man in Gegenwart von Alfred Stenger ein beliebiges Musikstück erwähnt, singt er spontan daraus vor: etwa das Hautthema oder einen besonders schönen Nebengedanken. Oder eine musikalische Schlüsselstelle, die der Komponist besonders geschickt eingefädelt hat. …weiterlesen
Author: doris
Musik und Literatur: Hermann Kretzschmar
„Tatsächlich gibt es Wesen, und das war für mich seit meiner Jugend der Fall, für die alles, was einen bestimmten, für andere feststellbaren Wert besitzt, Vermögen, Erfolg, berufliche Stellung, nicht zählt. Was sie brauchen, sind Phantome. Sie opfern den ganzen Rest. Sie setzen alles ins Werk. Stellen alles andere dahinter zurück, um einem solchen Phantom zu begegnen. Doch dieses verflüchtigt sich einstweilen“ – Worte von Marcel Proust in der jüngsten „Wort/Musik-Komposition“ Phantome von Hermann Kretzschmar. Frage an den Komponisten: „Darf man Prousts Worte als Statement aus Ihrem eigenen Künstlerleben verstehen?“ – „Ich will meine Musik dem Text nicht unterordnen. Eher den Gehalt des Textes weitertragen, über ihn hinausgehen“, stellt der Komponist klar.
Viele kennen Hermann Kretzschmar als einen der beiden Ausnahme-Pianisten des Ensemble Modern. „Wenn Sie mich fragen würden, wer mein Kompositionslehrer war, würde ich antworten: die langjährigen und zahlreichen Erfahrungen als Ensemble Modern-Mitglied“.
Dem in Frankfurt beheimateten Solisten-Ensemble für zeitgenössische Musik gehört er seit 1985 an und die Aufmerksamkeit hängt an dem Zahlendreher, der diese Jahreszahl mit seinem Geburtsjahr, 1958, verbindet.
„Loslassen!“, sagt Kretzschmar. „Loslassen, um sich etwas Neuem zu widmen, ist mir ganz wichtig. Die Phantome, über die Proust spricht, sind wie eine künstlerische Idee, die man ganz deutlich vor sich sieht. Aber wenn man sie dingfest machen will, verschwindet sie. Oder wie absolute Aspekte im Leben. Die lassen einen im Stich, verschwinden. Man kann nichts festhalten“.
Sein jüngstes Hörspiel, Phantome, fußt auf seiner Musik zum Hörbuch (2018) von Prousts „Sodom und Gomorrha“, dem vierten Roman aus dessen Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Die Textstellen, die darin vorkommen, erzählt Kretzschmar, „sind wie Eisberge: nur ihre Spitzen ragen aus der Musik heraus. Darunter wirken sie weiter“.
„Literatur und Musik haben mich seit der Schulzeit beschäftigt“, erzählt der zwischen Moor und Heide Aufgewachsene.
Unter seinen Werken sind auffällig viele literaturgebundene oder zumindest literaturmotivierte Hörstücke. Zusammen mit dem Regisseur Leonhard Koppelmann legte er etwa bei Thomas Manns Doktor Faustus Hand an, um die rund 650 Romanseiten auf rund 270 Seiten Skript für ein zehnstündiges Hörspiel zu reduzieren. Die Textfassung des Hörstücks Sodom und Gomorrha besorgte er zusammen mit dem SWR-Dramaturgen Manfred Hess, mit dem ihn eine langjährige, fruchtbare Zusammenarbeit verbindet. „Wenn es um das Erstellen der Hörfassung eines Romans geht, bin ich außer als Komponist sehr gerne auch als Textbearbeiter involviert. Denn manche Textstellen verbinden sich in mir spontan mit Musik. Das fände ich dann schade, wenn die rausfielen oder verändert würden“, sagt Kretzschmar.
Spontane Verbindungen mit Musik stellten sich in „Sodom und Gomorrha“ etwa für die zahlreichen Leitmotive ein, mit denen Proust arbeitet. Für sie komponierte Kretzschmar rund hundert verschiedene musikalische Module, die auf bestimmte Personen, Situationen oder gesellschaftliche Ereignisse hinweisen. Wiederholt erkennbar ist die Eisenbahnstrecke. Anleihen an der Musikgeschichte lässt Hermann Kretzschmars Tonsprache ebenfalls erkennen. Etwa übersetzte er den Umkreis der Salons in eine Permutation von Chopins posthum veröffentlichten As-Dur-Walzer.
Neuer Aufhänger für „Phantome“ gegenüber „Sodom und Gomorrha“ ist ein ausgedehntes Zitat von Jean Racine aus dessen Phèdre, darunter die Sätze: „Auf Reichtum, Gold stütze dich nimmer“, oder „Die Zahl unsrer Jahre ist ungewiss. Darum eilen wir uns heut noch, uns des Lebens zu freu’n.“ Im ersten Buch von „Sodom und Gomorrha“ misst Proust diesem Zitat auf dem Weg zu seiner Selbstfindung eine ähnlich zentrale Bedeutung zu, wie seinem Schlüsselerlebnis mit dem sprichwörtlich gewordenen Gebäck Madeleine. Insgesamt viermal in verschiedenen Stimmungen rezitiert oder gesungen durchzieht das Racine-Zitat das Hörstück wie Pfeiler einer Brücke. „Die einzige Musik, die bruchstückhaft immer wiederkehrt, sind die sogenannten ‚Phantom-Splitter‘, flatterhaft wie ein Gespenst, ohne feste Tonhöhen notiert, vage, manchmal Bläsern, manchmal Streichern überlassen, manchmal in den Klang einer singenden Säge mündend“, erzählt Kretzschmar.
Das Inhaltliche der Texte, mit denen Kretzschmar sich beschäftigt ist beim Schreiben seiner Musik stets präsent. Für das Komponieren orientiert er sich jedoch eher an formalen Aspekten der Vorlage. Daraus entwickelt er ein auf mehreren Ebenen durchkonstruiertes Gerüst für seine Komposition. Die verschiedenen Ebenen von Text und Musik sind mal gegenläufig, mal Hintergrund, mal treffen sie zusammen. „Der Glockenton nach dem Satz ‚Sie hat ihre eigenen Türglocke‘ hat sich zufällig aus dem Gegeneinander verschiedener Konstruktionsschichten ergeben. Er hat mir gefallen, so hab ich ihn gelassen“, erzählt er. „Manchmal sehe ich aber mein Konstrukt auch skeptisch und gebe ihm eine ganz andere Richtung“. Im Hörspiel „Phantome“ sind es etwa die von einer Sprecherin eingeworfenen Zahlen oder Begriffe, wie Entrelude, Coda oder Reprise: Sie scheinen das Ganze gliedern zu wollen, werden jedoch ad absurdum geführt und gewinnen eben dadurch aus dem Ganzen wieder ihren Sinn: als klangliche Versinnlichung des von Proust thematisierten Zustands zwischen Schlafen und Wachen. Vor allem des Schlafes. Als Hort aller Erinnerungen, die, wie Proust einräumt, vielleicht weit vor unser menschliches Leben zurückreichen. Darin sind die Phantome als klare (platonische) Ideen präsent und flattern nicht mehr davon.
Doris Kösterke
Das Hörstück „Phantome“ hatte Ende Januar Premiere und ist in der Mediathek des SWR2 abrufbar.
https://www.swr.de/swr2/hoerspiel/phantome-swr2-hoerspiel-studio-2021-01-28-100.html.
Oder
https://www.audiolibrix.de/en/Podcast/Listen/1231489/hermann-kretzschmar-phantome
Bluegras als Muttersprache: Annesley Black
„Ich oszilliere“, konstatierte Komponist Erik Satie (1866-1925). Sein Oszillieren zwischen sakralem Ernst, bitterer Satire und herzhaftem Quatsch zeigt sich auch in seiner Idee von einer „musique d’ameublement“. Zusammen mit dem Konzept einer Ambient Music von Brian Eno inspirierte sie die Reihe „Music For Hotel Bars“.
Nach einem erfolgreichen Start 2018 in Berlin und Station bei den Donaueschinger Musiktagen 2019 soll die von dem Musikdramaturgen Bastian Zimmermann kuratierte Reihe auch im Rhein-Main-Gebiet Fuß fassen. Der Lockdown macht sie zur Online-Veranstaltung. Und so wurde sie schelmisch umbenannt in „Music For House Bars“: Hausbars sind schließlich nach wie vor geöffnet und scheinen mehr denn je frequentiert zu werden.
Den bevorstehenden dritten Rhein-Main-Event konzipierten Regisseurin Friederike Thielmann und Komponistin Annesley Black. Beide leben und lehren in Frankfurt und sind sich auch konzeptuell recht nahe. Vereinfachend kann man sagen: sie haben Spaß daran, scheinbar Selbstverständliches in Frage und auf den Kopf zu stellen.
In ihrer musikalischen Performance in der Marmion Bar im fünften Stock des Lindley Hotels Frankfurt geht es, durchaus passend zu Einrichtung und Charme der Location, um Bluegras-Musik. Das geht in der Biographie von Annesley Black ein paar Schritte zurück: Bevor die 1979 in Ottawa Geborene Jazz, Elektronische Musik und Komposition studierte, spielte sie Bluegras.
„Bluegras als Muttersprache“ bescheinigt sie auch Joon Laukamp, der für diesen Abend Mandoline und Fiedel spielt. Ihr Mann, der Komponist Robin Hoffmann, wird Gitarre spielen und singen. Hinzu kommt Ensemble-Modern-Kontrabassist Paul Cannon, ein humorgesättigtes musikantisches Urgestein.
Die Musik, die sie zusammen machen, wird Annesley Black mit „Feldaufnahmen“ aus der Marmion Bar zu einer musikalischen Collage verarbeiten. „Wir waren nicht damit zufrieden, einfach ein Video oder Tonstück abzuliefern. Dabei hätten uns das Hier und Jetzt und das Spiel mit dem Ort gefehlt. Wir haben lange nachgedacht und sind auf diese Idee gekommen: ein Tonstück, zu dem wir live performen“, erzählt Black. „Friederike und ich schreiben ein Skript für die Performance, das allen den nötigen Abstand zueinander garantiert und ansonsten möglichst viele Freiheiten lässt. Viel Ironie und Humor werden mit dabei sein“. Mit der notgedrungenen Livestream-Situation gehen sie kreativ um und werden auch kuriose und privateste Orte der Marmion Bar bespielen.
Annesley Black verdankt ihr Ansehen (seit 2018 ist sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin) nicht zuletzt ihrem zeitkritischen Ansatz. Dabei geht sie nicht „mit dem Hammer auf den Kopf“ vor. „Ich sage mir nicht: jetzt muss ich ein Stück über amerikanischen Rassismus machen. Aber das Thema ist einfach da: An diesem Abend spiele ich Banjo. Das wurde zum ersten Mal von weißen Amerikanern auf einer Bühne gespielt, bei den Black Face Minstrel Shows, die sich über die afrikanische Musik lustig machten. Wenn man das weiß, dann ist das einfach ein Teil der Musik, ohne dass man darüber reden muss“.
Wollte sie schon immer mal Musik für Hotel Bars schreiben? – „Die Vorstellung, eine Stimmungs- oder Tapetenmusik zu schreiben, hat mich zuerst überhaupt nicht interessiert. Dann habe ich sehr viel darüber gelesen und den Gedanken von Brian Eno gefunden, dass Ambient Music kein Narrativ hat und eher ein Ort ist, wo man hingeht. Das fand ich sehr inspirierend und habe versucht, das in diesem Projekt hinzukriegen: Klänge als Ort zu erschaffen. Das ist so das eine Thema. Andererseits ist Bluegras keine Musik, die im Hintergrund läuft. Sie ist grell, meist ironisch, mit spezifischem, trockenem Humor“ – ein Gegenthema, das mit dem anderen oszilliert.
Brian Eno grenzt seine Ambient Music ganz entschieden ab gegen eine funktionale Musik, die Menschen dazu bringt, zu funktionieren (in einer Hotelbar etwa die Zufallsbekanntschaft für den, der ihr den Drink spendiert – etwa auf dessen Zimmer). Satie-Expertin Ornella Volta belegt, dass Satie mit seiner musique d’ameublement den Missbrauch von Musik herausstellen wollte. Ein Missbrauch, der mittlerweile ubiquitär ist: in Fabriken, Supermärkten, bei der Nutztierhaltung und in vielen Hotelbars dudelt es Bach und Mozart.
In der Marmion Bar wird es anders sein. „Wir präsentieren keine authentische Bluegras-Musik, sondern treiben das ein bisschen weiter“, sagt Annesley Black. Ein Hochkultur-Konzert gibt es ebenso wenig. Denn „beim Internet Streaming weiß man nie, welche Lautsprecher die Zuhörer zu Hause haben und wie das alles bei ihnen klingen wird. Damit müssen wir klarkommen“, sagt sie weise.
Dank zahlreicher Förderer, darunter der Kulturfonds Frankfurt RheinMain, ist das Angebot kostenfrei. Der Abend wird am Sonntag, den 28.2.2021 ab 20:30 Uhr in die Hausbars übertragen. Eine Kontrolle über das, was dort getrunken wird, erfolgt nicht. Empfohlen wird der Rattlesnake Smash, ein Whiskey Smash mit Wild Turkey 101 Bourbon, Minze, Zitrone, Zitronenschale, Absinth und Zimt. Wie man diese Spezialität der Marmion Bar perfekt zubereitet, wird Barbesitzer Malwin Hillier im Lifestream zeigen. Man darf es jedoch auch halten, wie Annesley Black: „Ich trinke lieber einen guten Wein“.
DORIS KÖSTERKE
5.2.2021
Dem Ensemble Modern von Manfred Stahnke
Mit einer offenen Frage schließt das Stück ›em 40‹, das Manfred Stahnke dem Ensemble Modern zum vierzigsten Geburtstag gewidmet hat. Den Ernst dieses Statements zu diesen Zeiten unterstrich die Stellung der Uraufführung: ›em 40‹ war das erste Werk, das der basisdemokratisch organisierte Klangkörper in diesem Jahr öffentlich erklingen ließ.
Ensemble Modern On Air
Das Konzert fand ohne Publikum im Dachsaal der Deutschen Ensemble Akademie statt. Den Livestream kann das Ensemble allein aus wirtschaftlicher Not nicht mehr, wie zuvor, unentgeltlich anbieten. Immerhin gibt es ein solidarisches Preissystem von einem „Einsteigerpreis“ von fünf, bis zu einem „Unterstützerpreis“ von dreißig Euro. Dass das Online-Ticket-Unternehmen eine zusätzliche Service-Gebühr erhebt, erscheint in diesem Zusammenhang als bitterer Hohn auf die Wertschätzung künstlerischer Arbeit.
Knisternde Konzentration
Die künstlerische Leistung war, wie eigentlich immer beim Ensemble Modern, enorm. Ein Blick in die Gesichter verriet die knisternde Konzentration in diesem latenten Flötenkonzert. Der Part des Flötisten Dietmar Wiesner, letztes noch aktives Gründungsmitglied, ist so vollmundig-virtuos, wie dieses weltweit gefragte Ensemble für Neue Musik. Die Rolle des Streichquartetts, das ihn umgibt, ist so wortkarg wie ätherisch, dass jede Nuance im Tonfall, jedes Quäntchen mehr oder weniger Lautstärke an Bedeutung gewinnt. Die Dosierung scheint unter der Leitung von Silvain Cambreling genau abgestimmt, aber auch gefährdet zu sein.
„Ebe und Anders“ von Pierluigi Billone
Warum Pierluigi Billone sein Stück für 7 Instrumente (2014) „Ebe und Anders“ nannte, bleibt der Fantasie des Fragenden überlassen. Die herausgehobenen Rollen von Trompeter Sava Stoianov und Posaunist Uwe Dierksen legten nahe, dass der Titel auf Andreas Eberle (Posaune) und Anders Nyqvist (Trompete) anspielt, Kollegen im Klangforum Wien, dem diese Reise durch ungewöhnliche Klangwelten gewidmet ist. Die Menschen an den Kameras gaben sich alle Mühe, dieses Erkunden durch Nahaufnahmen noch anschaulicher zu machen: In einem Konzert hätte man das leise Klopfen auf den Wirbelkasten der E-Gitarre (Christopher Brandt) möglicherweise ebenso wenig wahrgenommen wie das durch leichte Schläge auf das Brustbein hervorgerufene Trompeten-Vibrato oder die Ausdruckstanz-ähnliche Choreographie des Posaunen-Dämpfers. Manches erinnerte an emotionale Äußerungen in einer unbekannten Fremdsprache, Tonfälle, die man irgendwie „versteht“.
„REMIX“ von Georg Friedrich Haas
Georg Friedrich Haas nannte sein Stück „REMIX“, weil er darin eigentlich nur Elemente aus früheren Werken in einen neuen Zusammenhang stellen wollte. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht betrat er dennoch Neuland in Form einer Dichte, die zu einer eigenen Qualität wurde. In Haas Worten: „Der musikalische Sinn entsteht dabei nicht aus den einzelnen Tönen und Klängen (er entsteht auch nicht aus den Ereignissen in den einzelnen Stimmen), sondern er entsteht nur aus dem Gesamtklang“. Die Musikerinnen und Musiker, darunter auch der Komponist und Oboist Tamon Yashima, der 2019/20 Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie war, handhabten die virtuosen Anforderungen entspannt. Man spürte ihre gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem entstehenden Ganzen, einem im Wortsinne „Heiligen“.
DORIS KÖSTERKE
26.1.2021
Jens Barnieck spielt Friedrich Gernsheim
„Man thut sein Bestes, repräsentirt das musikalische Deutschland nach aussen hin in nicht übler Weise und da kommen die hochweisen Herren und sagen, ‚der ist Jude‘ oder, was geradezu an Bornirtheit grenzt, ‚Der hat zuviel jüdischen Anhang, der gehört nicht zu uns’”, klagte Friedrich Gernsheim (1839-1916) seinem Komponistenkollegen Ferdinand Hiller. …weiterlesen
Gespräch mit Carola Reul
FRANKFURT. Carola Reul ist seit 2019 Geschäftsführerin der in Frankfurt beheimateten Jungen Deutsche Philharmonie (JDPh). Im Vorfeld dieses Gesprächs habe ich sie als erfrischend pragmatischen Menschen kennengelernt. So verstehe ich, dass die basisdemokratisch organisierten jungen Musiker sie einstimmig gewählt haben. Was fand sie anziehend an der JDPh?
CR: Die JDPh ist ein unkonventionelles Orchester. Ich finde es faszinierend, dass StundentInnen die Lust und das Bedürfnis haben, sich in einem von ihnen selbst verwalteten Orchester auszuprobieren. Sie übernehmen Verantwortung, suchen nach Neuem, wollen Grenzen sprengen, ihre Persönlichkeit bilden, lernen. Der Umgang mit jungen Menschen war ja der Anfang meiner beruflichen Ausbildung. Da schloss sich ein Kreis.
DK: Vor Ihrer beachtlichen internationalen Karriere haben Sie in Würzburg Schulmusik studiert. Mit welchen Instrumenten?
CR: Neben meinem Hauptfach Klavier und der Querflöte im Nebenfach habe ich auch einen Schwerpunkt aufs Singen gelegt. In meinen Jahren in London habe ich im BBC Symphony Chorus mitgesungen: Mahlers Zweite mit Claudio Abbado, Beethovens Neunte mit Bernhard Haitink, mit dem War Requiem und Sir Andrew Davis bei den Salzburger Festspielen und zahlreichen Last Nights of the Proms – das war schon toll.
DK: Sie haben also auf hohem Niveau gesungen, während Sie an der City University London ein Postgraduate Diploma in Cultural Management erworben haben. Danach haben Sie ein Praktikum beim BBC Symphony Orchestra gemacht.
CR: Ja. Und praktische Erfahrungen gemacht: etwa früh um 5 Uhr mit den Bühnenmanagern Instrumente in den LKW laden, zum Konzertort fahren, ausladen, Aufbau, Probe, Konzert, Instrumente verpacken, Einladen, zurück zum Studio, um Mitternacht ausladen – eine von vielen praktischen Erfahrungen.
DK: Ab 2000 haben Sie sich bei HarrisonParrott in London mit ganz großen Künstlern befasst, oder?
CR: Das war in der Tat so: Mauricio Pollini, Ivan Fischer, Truls Mörk, Krystian Zimerman, Tabea Zimmermann, Susanna Mälkki um nur ein paar zu nennen, wurden von mir logistisch betreut.
DK: Seit 2004 haben Sie im Logistik- und Tourneemanagement von Orchestern gearbeitet. Auf mich wirkt das wenig künstlerisch.
CR: Ganz im Gegenteil! Wenn man auf Tournee ist, hört man jeden Abend Musik. Jeden Abend! Live! Auf extrem hohem künstlerischem Niveau! Das habe ich als unheimliches Privileg empfunden.
DK: 2007 haben Sie HarrisonParrott verlassen und sind als Senior Project Managerin zur Konzertdirektion Schmid gegangen.
CR: Da hatte ich großartige Tourneen mit Esa-Pekka Salonen und dem Philharmonia Orchestra, mit dem Gewandhausorchester und Ricardo Chailly, aber auch kleine feine Projekte, etwa mit Musikern und Tänzern aus Indien.
DK: Im vergangenen Jahr sind Sie von dort zur JDPh nach Frankfurt gewechselt.
CR: Ja, ich wollte den Musikbetrieb noch von einer anderen Seite als der der Agenturwelt kennenlernen. Mein erstes Jahr bei der JDPh war sehr erfüllend, positiv, aufregend, herausfordernd. Mein Amtsvorgänger Christian Fausch hat mir eine sehr gut geölte Maschinerie übergeben und mich toll in den Job eingeführt. Ich bin schnell „angekommen“, konnte Strukturen und Abläufe verstehen und mich mit Kolleginnen und Kollegen vernetzen.
DK: Was waren Highlights für Sie?
CR: Die Zeit, die wir mit Helmut Lachenmann verbringen konnten: wie er mit den MusikerInnen sprach, wie sie ihn um Rat fragten und wie sie gemeinsam sein Werk erarbeiteten, das hatte etwas zutiefst Berührendes. Beim Neujahrskonzert spielte dann das Orchester vor 2400 Menschen und bekam stehende Ovationen. Das freut mich dann natürlich auch immens. Dazwischen war das Projekt Under Construction zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum, mit fünf Auftragskompositionen zu Bildern von Bauhaus-Künstlern und fünf Poetry-SlammerInnen. eine in sich geschlossene und runde Sache …
DK: … ein spannungsreiches interdisziplinäres Projekt, das man anhand der jüngst erschienen CD nachvollziehen kann. Und wie geht es der JDPh zur Corona-Zeit?
CR: Wir haben – Stand heute – zwei von vier Arbeitsphasen verloren und hoffen, dass wir die dritte Ende August/Anfang September durchziehen können.
Finanziell werden zwar unsere Projekte gefördert. Aber unsere laufenden Kosten bestreiten wir zum Teil auch über Konzerthonorare, die ja nun komplett weggebrochen sind. Da hilft uns natürlich der Binding Preis. Aber das Geld daraus hätte ich viel lieber in ein tolles Projekt gesteckt.
Die generelle Unsicherheit zehrt an den Nerven: Eigentlich müsste ich jetzt die Planungen für 2021/22 und die Folgejahre voranbringen. Aber das ist kaum möglich, weil die Veranstalter ja mit den gleichen Unsicherheiten kämpfen und nicht unbedingt in Planungslaune sind, was ich gut verstehen kann.
DK: Die Politik lässt Künstler derzeit spüren, dass sie sie für nicht systemrelevant hält.
CR: Die eklatante Nichtbeachtung der Kultur als milliardenschwerer Wirtschaftszweig frustriert. Außerdem: Was hat ein Kammerkonzert vor hundert Zuhörern mit dem Gäubodenfest gemeinsam? Beide unter „Großveranstaltungen sind bis zum 31.8. verboten“ zu subsummieren, ist absurd! Wir müssen uns Gehör verschaffen und ich erwarte, dass man uns die Chance gibt, mit kreativen Ideen an den Tisch zu kommen und mitzudiskutieren.
DK: Meine letzte Frage: Was sind Sie für ein Mensch?
CR: Gut organisiert, wach, optimistisch (auch, wenn das gerade nicht so leicht ist), empathisch, mit einer ordentlichen Portion Humor: Ich kann sehr gut über mich selbst lachen.
DK: Damit haben Sie mich jetzt angesteckt!
DORIS KÖSTERKE
29. April 2020
„Inferno“ von Lucia Ronchetti
Die Proben zur Oper „Inferno“ von Lucia Ronchetti wurden auf halbem Wege eingefroren. Die Uraufführung ist in den Juni 2021 verschoben. Die Komponistin ist derzeit in Rom isoliert. Dirigent Tito Ceccherini und die beiden Dramaturgen, Ursula Thinnes vom Schauspiel und Konrad Kuhn von der Oper erleben das gleiche in Frankfurt.
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Erste CD von Otzberg Vocal
Bei Ingrid Theis fügt sich immer wieder vieles glücklich zusammen: Sie fand einen Mann, der sehr gut kocht und ihre Leidenschaft für die Musik teilt. In den 1970er Jahren verliebten sie sich in eine heruntergekommene frühere Sommerfrische, eine Hofreite am Fuße des Otzbergs am Südrand des Odenwaldes. Nach und nach konnten sie mehr und mehr Teile des Anwesens erwerben, es mit viel Eigenarbeit bewohnbar machen und schließlich die ersten Musiker dort beherbergen. …weiterlesen
Happy New Ears für Unsuk Chin
„Unüberheblicher Witz“ – damit hatte Moderatorin Kerstin Schüssler-Bach ungemein treffend beschrieben, was Unsuk Chin versprüht. Der 1961 in Korea geborenen Komponistin war das jüngste Werkstattkonzert Happy New Ears des Ensemble Modern gewidmet, das als Lifestream aus dem Dachsaal der Deutschen Ensemble Akademie übertragen wurde. Unsuk Chin war dazu aus Rom zugeschaltet, wo sie derzeit als Stipendiatin in der Villa Massimo weilt. In der Nahaufnahme sah man ihre meist verschmitzt verengten Augen. Und wenn sie sie, selten, ein wenig öffnete, den Schalk darin blitzen.
Den gleichen Eindruck vermittelte ihre Musik. …weiterlesen
Zender, Schubert, Winterreise
Schuberts Freunde reagierten erschüttert auf die Uraufführung seiner „Winterreise“. Heute gehören die 24 Lieder, in denen ein verschmähter Liebender zunehmend lebensmüde seinen Schmerz besingt, zu den größten Kassenschlagern des klassischen Musikmarkts. Hans Zender (1936-2019) wollte dem Liederzyklus etwas von seiner ursprünglichen Wirkung zurückgeben, als er den Klavierpart zu einem geräuschnahen Orchesterstück für 24 Instrumentalisten ausweitete. …weiterlesen