Vision String Quartet macht Klassik lebendig

Wie liebliche Wässerchen plätscherten die Sechzehntel in Geigen und Bratsche zu Beginn von Schuberts Quartettsatz c-Moll D 703. Als wolle er sie warnen, schwoll Der Einsatz des Cellisten mächtig an. Geistesgegenwärtig gestalteten die vier jungen Männer vom Vision String Quartet das folgende forzatissimo wie den Knall gegen einen Fels. An eine flüchtende Taube erinnerte der Abwärtslauf der Erste Geige, die den Schwarm ein paar Takte später so klangschön führte, als sei sie die Liebe persönlich: Kopfkino vom Lebendigsten im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt.

Das Besondere: Die Musiker des 2012 gebildeten Berliner Quartetts spielen alles auswendig, haben das musikalische Geschehen komplett verinnerlicht, es sich buchstäblich zu Eigen gemacht. Ohne Notenständer als Barrieren nehmen sie ihr Publikum mit auf die Reise, die in jedem Augenblick abenteuerlich improvisiert wirkt. Barrierefrei auch der Kontakt untereinander: Geiger und Bratscher agierten im Stehen. Wo zwei Stimmen aufeinander bezogen sind, gingen die Musiker einen Schritt aufeinander zu. Wo die Allianzen sich wandeln, sortierten sich auch die Spieler um – nicht zuletzt eine theatralische Aktion, die das bewusste Zuhören stärkt. Ein Cellist kann sein großes Instrument nur meistern, wenn er sitzt: für Schubert, bei dem der Bass eine eigene Rolle spielt, saß Leonard Disselhorst außen, sonst im Zentrum, wo seine Führungsstärke besonders gut zum Tragen kam.

Ohne Abgrenzung, attacca, hatte in diesem Konzert Ligetis Erstes Streichquartett in Schuberts Quartettsatz übergehen sollen – ein Übergang, der auch das Publikum zweifellos aus den Sesseln gehoben hätte. Aber, wie Sekundarius Daniel Stoll zu Beginn des Konzerts sagte, brauchte man nach dem Ligeti dringend eine Stimmpause. So folgte Ligetis noch stark an Bartoks Folklorismen orientiertes Frühwerk auf Schubert, durchweg ur-musikantisch mit miauenden Glissandi und einem vor Schmalz triefendem Walzer.

Hauptwerk des Abends war Beethovens spätes Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132. Auch hier gaben die jungen Musiker jedem Moment einen einleuchtenden Sinn. Auch hier gaben die Musiker dem letzten Satz eine besondere Leichtigkeit, indem sie auf eine allzu exakte Koordination verzichteten und das Eigenleben jeder einzelnen Stimme voll zur Geltung brachten.

Für die Zugabe kamen die Musiker ohne Bögen auf die Bühne und hielten ihre Instrumente wie Klampfen vor der Brust. „Samba“ war von Primarius Jakob Encke selbst komponiert und gab allen Quartettmitgliedern Gelegenheit für eine musikalisch gekonnte humoristische Selbstdarstellung im szeniscvh hinterfragten Trivialmusik-Idiom. So kickte Bratscher Sander Stuart etwa Daniel Stoll mitten in seinem Solo zur Seite, mimte kurz einen Rockgitarristen und zog sich dann an die Seite des Cellisten zu einem erfüllten Duo zurück. „Ausflüge“ in Jazz, Pop und Rock scheinen im Quartett das Sinnlich-Herzhafte, das Haptisch-Anschauliche und den Swing zu kultivieren, das seinen Klassik-Interpretationen wiederum zu Gute kommt.

DORIS KÖSTERKE
29.11.2018