„Ihr seid doch nicht alle so angepasst, oder?“ – Die Jugendlichen, die Kirsten Uttendorf so fragt, reagieren mit einem befreiten Schmunzeln und stellen sich gleich ganz anders hin. Nehmen die Haltung ein, die die Darmstädter Operndirektorin provozieren will: Eine Haltung, „die man braucht, um den Weg zu gehen, den man in sich spürt“, wie sie sagt.
Gespräch mit Kirsten Uttendorf über ihre Inszenierung
Am Staatstheater Darmstadt inszeniert sie die Jugendoper „Tschick“ des Komponisten Ludger Vollmer nach dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrendorf. Viele Zehn- bis 14-jährige müssen den Roman für den Deutschunterricht lesen und sind entsprechend wenig davon begeistert: alle Vorurteile der Nation scheinen darin durchdekliniert und mit einer solchen Regelmäßigkeit entkräftet, dass das Entkräften der Klischees schon selbst zum Klischee wird.
Etwa dieser Tschick. Mit dem will niemand was zu tun haben: Puh, wie der riecht! Und wie der aussieht! Und was der anhat: Zehn-Euro-Jeans von KiK, also voll der Asi! Und ausgerechnet dieser stinkende Tschick kreuzt bei Maik zu Hause auf, stapft ungebeten in den gepflegten Garten und sagt: „Geiler Pool!“. Um dann ohne Worte zu verstehen, wie sehr Maik Tatjana liebt. Und wie unglücklich. Schließlich erweist sich dieser Tschick als der einfühlsamste Freund, den Maik, Musterbeispiel eines Wohlstandsverwahrlosten, je hatte. Der Maik immer wieder anstachelt, über seinen Schatten zu springen. Auf einer planlosen Reise nach Huckleberry-Finn-Manier in einem geklauten Lada durch den deutschen Osten. Auf der Flucht vor Polizisten, die von weitem erkennen, dass die beiden zu jung sind, um einen Führerschein zu haben. In Begegnungen, in denen die abstoßendsten Typen sich als die hilfreichsten erweisen. Und schließlich vor einem Jugendrichter. Der hat für die Jungs mehr Verständnis als Maiks Helikoptervater, dessen Fürsorge sich im Grunde auf eine Alibifunktion reduzieren lässt.
„Der Roman hat Qualitäten und Schwächen“, räumt die Darmstädter Operndirektorin Kirsten Uttendorf im Gespräch mit dieser Zeitung ein. Aber sie ist sicher, dass die Oper bei den Jugendlichen ankommt, über die so energiereiche wie vielschichtige Musik von Ludger Vollmer mit ihren Elementen aus „Schlager, Rap und Mozart bis Schönberg“, wie Uttendorf flott zusammenfasst: Der 1961 in Weimar geborene Vollmer hat bei dem Polystilisten Alfred Schnittke studiert. Als Schüler von Dimitri Terzakis wurde er (unter anderem) „Enkelschüler“ von Bernd Alois Zimmermann, der über die Grenzen von „niederer“ und „hoher“ Musikkultur erhaben war. 2014 bekam Vollmer den Weimarpreis verliehen, weil er „sich in seinen Werken für den Abbau von Vorurteilen gegenüber Minderheiten und für kulturelle Vielfalt einsetzt“, heißt es in der Verleihungsurkunde.
So auch in „Tschick“. Kerstin Uttendorf erlebte die Uraufführung 2017 am Theater Hagen und war elektrisiert. Allerdings hat sie aus den zweieinhalb Stunden der Uraufführung einiges herausgestrichen. „Der Komponist fand sogar selbst, dass die Gesamtaussage dadurch klarer wird: Wir brauche alle mehr Offenheit, mehr Mut, um anders als die Norm zu sein. Und mehr Humor“, sagt Uttendorf, die ihre Zielgruppe nicht auf Jugendliche beschränkt sieht. Sind deren Hirne nicht ohnehin, wie der Hirnforscher Romuald Brunner meint, „wegen Umbau geschlossen“? – „Nun, ich war ja auch mal in dem Alter und – irgendetwas hat mich schon erreicht!“, lacht Kerstin Uttendorf. „Theater war für mich damals sogar enorm wichtig“, fährt sie fort. „Für Theater war ich sogar wesentlich offener als für die Schule“. Mit Romuald Brunner könnte man das sogar erklären: weil in der Pubertät die Entwicklung der Nervenzellen im Emotionszentrum den grauen Zellen davonläuft, dürften Jugendliche über diese rein emotional verständliche Musik weit eher zu erreichen sein, als im Deutschunterricht.
Theater kann mehr als Schule
Die oben erwähnten Jugendlichen spielen in Uttendorfs Inszenierung „die Klasse“, die auf Norm Getrimmten, die mit Tschick (Georg Festl) und Maik (David Pichlmaier) nichts zu tun haben wollen. Doch nachdem die beiden für einen Sommer ihr Rebellentum gelebt haben, ändert sich „die Klasse“. „Von dieser Szene werdet Ihr noch Euren Kindern erzählen“, sagt Uttendorf.
Das Ende ihrer Inszenierung weicht vom Libretto von Tina Hartmann und auch vom Romanende ab: Bei Uttendorf lernt Maiks Mutter etwas ganz Wichtiges von ihrem Sohn. Dafür sind Kinder schließlich da.
DORIS KÖSTERKE
Das Gespräch fand am 18.02.2020 per Telefon statt.
Premiere am Freitag, den 21. Februar im Staatstheater Darmstadt, Kleines Haus ab 19:30. Restkarten für die Premiere sowie für die Vorstellungen am 26. Februar und 1. und 25. April sind im Vorverkauf erhältlich. Weitere Vorstellungen sind am 24. Mai und 9. Juni vorgesehen. Für alle lebenshungrigen Menschen ab zwölf.