„Die Zeit für meine Musik wird noch kommen“, sagte der zu seinen Lebzeiten umstrittene Gustav Mahler (1860–1911). Seine Beliebtheit begann zu wachsen, als er rund fünfzig Jahre tot war. Inzwischen gehört er zu den beliebtesten „Klassikern“. Warum?
Manche Menschen finden es kommunikativ, wenn seine Symphonik unvermittelt ins Triviale, ins Naivistische, ins Verklärt-Volkstümliche kippt. Etwa, wenn sich im dichten vierten Satz der groß dimensionierten Zweiten Symphonie ein Weihnachtslied Bahn bricht.
Banal?
Manche empfinden das unter ihrer Würde. Auch Arnold Schönberg bekannte 1912, ein Jahr nach Mahlers Tod, manche von Mahlers Themen „anfangs“ als banal empfunden zu haben. Darauf lässt er sofort die einleuchtende Entkräftung folgen: „wenn sie wirklich banal wären, müsste ich sie heute viel banaler finden als früher“. Doch das Gegenteil war der Fall. Warum? Bei allem Respekt vor Gefilden, denen mit Worten nicht beizukommen ist, soll hier versucht werden, aus der Entfernung ein paar Wegweiser für die Wertschätzung Mahlers als Mittler zwischen Romantik und Moderne aufzustellen:
Brüche und Zweifel
In seinem noch immer lesenswerten Aufsatz von 1973 sah Peter Ruzicka die Pionierarbeit Mahlers darin, dass er den Brüchen und Zweifeln, die er selbst empfand, in seiner Musik Raum gab und dafür „das bis dahin streng tabuisierte Prinzip ästhetischer Stimmigkeit“ aufgab.
Zuhörer beteiligen
Rückgriffe auf Bekanntes, auch etwa im Falle der Readymades in der bildenden Kunst, so Ruzicka, lösen im Betrachter immer eine Vielzahl an Assoziationen aus. Betrachtet man dies aus einer Sicht, die etwa an der Ästhetik eines John Cage gereift ist, setzt Mahler seine Zuhörer damit frei, ihr „Bild“ von der Komposition und ihr Kunsterlebnis selbst zu gestalten. Damit ermöglicht er eine Vieldeutigkeit, die in ihrem Schillern kaum banal werden kann.
Über diese Aktivität beteiligt er seine Zuhörer an seiner eigenen Suche nach Sinn, die seinem Komponieren zu Grunde liegt: Komponieren ist für Mahler eine vom christlichen Erlösungsgedanken inspirierte, letztlich philosophisch motivierte musikalische Sinnsuche.
Alma
„Dieses ewige Telefonieren mit Gott“, spottete Alma Mahler darüber. Sie litt zeitlebens darunter, dass sie ihr eigenes Komponieren hatte aufgeben müssen, um den 19 Jahre Älteren zu heiraten. Als Gustav Mahler nach acht Ehejahren dann doch einmal eine Arbeitsmappe seiner Frau in die Hand bekam, setzte er sich selbst für den Druck und die Aufführung einiger dieser Lieder ein.
Kein Traumfabrikant
Gegenüber der alles Subjektive überwindenden Schönheit in seiner Neunten Symphonietut man gut daran, sich ein wenig vorzubereiten, etwa, indem man sich verschiedene Interpretationen anhört, ohne eine bestimmte zu favorisieren. Ansonsten steht Mahler im Bespielen der Klaviatur der Gefühle keinem Hollywood-Komponisten nach. Doch anders als die Traumfabrikanten stellt er diese Emotionen auch wieder in Frage. So mischt er etwa in die deftige Festtagsstimmung im ersten Satz der Vierten Symphonie zunehmend ironische bis sarkastische Töne. So, als suche er hinter dem Gefühlten nach Wahrheit. In dieser Suche bleibt Mahler aktuell. Gustav Mahler ist modern.
DORIS KÖSTERKE
August 2023
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Fr. 25. August um 20 Uhr, Kloster Eberbach.
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 9
Gustav Mahler Jugendorchester unter Jakub Hrůša
Kloster Eberbach.
https://www.rheingau-musik-festival.de/programm-karten/programmuebersicht/detail/gustav-mahler-sinfonie-nr-9