Was ist musikalische Schönheit? Hans Werner Henze (1926-2012) begriff die Schönheit seiner Musik als „genährt“ von persönlichen „grauen- und wundervollen Erfahrungen“.
Erfahrungen machte er als Homophiler im NS-Staat, in Arbeitsdienst, Militärdienst und Kriegsgefangenschaft. Ein Komponist, fand er, sollte ein „Botschafter höherer Spiritualität“ sein. Nach dem Krieg, als Komponisten aus aller Welt sich für die Darmstädter Schule begeisterten, ging Henze seinen eigenen Weg.
Diesen Weg zeichneten das Ensemble Modern und das SWR Vokalensemble Stuttgart in ihrem gemeinsamen Konzert im Mozart Saal der Alten Oper in ausgereiften und fast kulinarisch vermittelten Interpretationen nach.
Noch während Henzes Lehrzeit bei Wolfgang Fortner entstanden die Fünf Madrigale auf Gedichte aus dem „Großen Testament“ von François Villon für gemischten Chor und 11 Solo-Instrumente. Leuchtende Zusammenklänge und pludrige Dissonanzen wurden von den 28 Sängerinnen und Sängern ohne Stimmgabel intoniert. Die Aufführung ließ die Liebessehnsucht des sich seiner Unappetitlichkeit voll bewussten Alternden mitempfinden, während Henzes Instrumentierung der letzten Strophe die Liebe in den Rang einer Religion zu heben schien.
In Orpheus Behind the Wire nach Gedichten von Edward Bond für Chor a cappella legte Henze seinen Finger in Wunden und fasste den Schmerz in Schönheit. In Lieder von einer Insel – Chorphantasien auf Gedichte von Ingeborg Bachmann verbanden sich Mythisches, Kritisches und Musikalisches von Alter Musik bis zur Schönberg-Nachfolge, sowie, als Folge von Henzes Anspruch, Kunst und Leben miteinander zu verzahnen, in hohem Maße auch Folkloristisches.
Marcus Creed dirigierte „seine“ Sänger und das ungemein klangsinnlich agierende Ensemble Modern mit sachlichen Gesten, im Applaus aufs Bescheidenste hinter das großartige Resultat zurücktretend.
Umgeben von den Texten vom Sterbenwollen und Sterbenmüssen (Villon), von „Orpheus“ und „Eurydike“ in getrennten Todeszügen und davon, wie der Selbstmord eines Dichters die Nachwelt um Wesentliches beraubt (Bond), entfalteten die beiden reinen Kammermusikwerke, Quattro Fantasie und Neue Volkslieder und Hirtengesänge eine Intensität als Ohrenkino, die über die der textgebundenen Werke noch hinausging. DORIS KÖSTERKE
Manuskript eines im April 2016 in der Rhein Main Zeitung der F. A. Z. veröffentlichten Artikels.