Bei Ingrid Theis fügt sich immer wieder vieles glücklich zusammen: Sie fand einen Mann, der sehr gut kocht und ihre Leidenschaft für die Musik teilt. In den 1970er Jahren verliebten sie sich in eine heruntergekommene frühere Sommerfrische, eine Hofreite am Fuße des Otzbergs am Südrand des Odenwaldes. Nach und nach konnten sie mehr und mehr Teile des Anwesens erwerben, es mit viel Eigenarbeit bewohnbar machen und schließlich die ersten Musiker dort beherbergen. Die traten zunächst auf der Veste Otzberg auf, bei den Kammermusikkonzerten des dortigen Museums. Inzwischen finden die Konzerte im Gartensaal der Hofreite statt. Einzigartiger Weise wohnen die Musiker bereits eine Woche vor dem Konzert beim Ehepaar Theis: Jetlag-Musizieren ist nicht erwünscht. Sie genießen die herrliche Umgebung, die gute Behandlung durch Ingrid Theis und die gute Küche ihres Mannes und raufen sich mit ihren Musizierpartnern zusammen: Oft kennen sie einander vorher noch gar nicht, aber in aller Regel finden sie zu einem Kollektiv zusammen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Und das immer mal wieder erleben lässt, dass gute Musik mehr ist, als Professionalität.
Große Namen konnte sich das 1993 gegründete Festival nie leisten, dessen künstlerische Leitung seit 1996 in den Händen von Ingrid Theis liegt. Aber was sagt schon ein großer Name über die Qualität von Musik? Künstler, die in jungen Jahren auf dem Otzberg auftraten, haben mittlerweile große Namen und kommen trotzdem noch gern an den Otzberg.
Wie die Musiker zusammenkamen
Kürzlich erschien, wieder eine Verkettung glücklicher Zufälle, die erste Otzberger CD beim Label Coviello, mit dem Bariton Andreas Burkhart, dem Hornisten Johannes Lamotke, dem Bratscher Malte Koch und dem Pianisten Thorsten Kaldewei. Ingrid Theis hörte Andreas Burkhart im Radio. „Sie kennen meinen Spruch: Viele Sänger singen sehr schön, aber ich glaube ihnen keinen Ton“, erzählt sie. „Bei Andreas Burkhart spürte ich: der weiß, was er singt. Es stellte sich heraus, dass er mit unserem bewährten Bratscher Malte Koch, der ebenfalls in München lebt, befreundet ist und gerne einmal mit ihm musiziert hätte“. Ingrid Theis fing an zu recherchieren und fand einige Lieder für diese Besetzung: So hatte Johannes Brahms seinem Freund Josef Joachim und dessen Frau Amalie Schneeweiss, die Altistin war, seine zwei Lieder op. 91 auf den Leib geschrieben. Um der Klangfarbenmischung willen ließ er Joachim darin zur Bratsche greifen. Das erste dieser beiden Lieder, „Gestillte Sehnsucht“, bildet den krönenden Abschluss der CD in einer Interpretation, die dermaßen unter die Haut geht, dass sich die Anschaffung dieser CD allein dafür lohnt. Eine wahre Entdeckung sind auch die Fünf Schilflieder, op. 31 für Bariton, Viola und Klavier von Henri Marteau.
Noch weit mehr Lieder fand Ingrid Theis für das Horn als zusätzliches Melodie-Instrument zu Sänger und Klavier. Das passte gut, weil auch der bei den Berliner Philharmonikern spielende Hornist Johannes Lamotke ein gern gesehener Gast am Otzberg ist. Hornbegleitete Lieder von von František Škroup, Wilhelm Kleinecke und Heinrich Proch erscheinen hier erstmals auf Tonträger, eine Spezialität des Labels Coviello. „Die Proch-Noten lagen auf dem Flügel, wo sie ein Pianist, der zufällig im Hause Theis zu Besuch war, entdeckte. Er beschäftigte sich gerade mit dem Wiener Komponisten und fragte: Woher kennst du denn DEN? – So kamen wir zum Pianisten für unsere CD“, erzählt Theis.
Von Coviello kam aber auch eine Bedingung: „Für unseren internationalen Markt muss die CD einen englischen Titel haben.“ Ingrid Theis fand “Three Songs for Medium Voice, Viola and Piano” (1907) von Frank Bridge. Das erste beginnt mit den Worten „Far, far from each other“. Kurz nach der Einspielung kam der Lockdown. „Da hatten wir den Titel und bald auch ein passendes Titelbild“, freut sich Ingrid Theis.
Die CD beginnt mit Schuberts „Auf dem Strom“ D 943. Im Vorspiel spielt Johannes Lamotke zunächst das Naturhafte seines Instruments aus und schwenkt dann so unerwartet und im Ton so treffend in das das zentrale Thema der CD, die Sehnsucht eines liebenden Menschen nachdem entfernten geliebten anderen, dass man sagen möchte: Wahre Liebe gibt es nur in der Sehnsucht.
DORIS KÖSTERKE
Februar 2021