Jens Barnieck spielt Friedrich Gernsheim

„Man thut sein Bestes, repräsentirt das musikalische Deutschland nach aussen hin in nicht übler Weise und da kommen die hochweisen Herren und sagen, ‚der ist Jude‘ oder, was geradezu an Bornirtheit grenzt, ‚Der hat zuviel jüdischen Anhang, der gehört nicht zu uns’”, klagte Fried­rich Gernsheim (1839-1916) seinem Kom­ponistenkollegen Ferdinand Hiller.
Gernsheim war ein zu Lebzeiten inter­national geschätzter Musiker. Johannes Brahms etwa ließ ihn die Uraufführung seines Deutschen Requiems dirigieren. Die Nationalsozialisten tilgten Gernsheims Werke samt der Biographie von Karl Holl aus den Bibliotheken. Einige Dokumente haben dennoch überlebt.

Gernsheims plastische, weit gespannte Melodien und die substanzreichen Geflechte aus Stimmen und Gegenstimmen begeistern auch heutige Hörer. Vor einigen Jahren dirigierte Hermann Bäumer in Mainz die Erste Symphonie von Gernsheim. Der bei Wiesbaden lebende Pianist Jens Barnieck, der unter anderem bei Yvar Mikhashoff in New York studiert hat, hörte die Auffüh­rung und machte sich auf die Suche nach Gernsheims Klaviermusik.

In der National Library of Israel fand er Autographe der Zweiten und Dritten Klaviersonate, die Gernsheim im Alter von 15 und 16 Jahren geschrieben hatte. Er verhandelte über zwei Jahre, bis er Kopien dieser Manuskripte erwerben konnte. Dann setzte er sich ans Entziffern. „Das klingt leichter, als es ist“, erzählte Barnieck: In den Manuskripten überlagern sich verschiedene Versionen, Streichungen, rückgängig gemachte Streichungen und Und-So-Weiter-Zeichen, von denen nicht immer klar ist, worauf sie sich beziehen. Manche Takte sind unvollständig geblieben: Es scheint, als habe Gernsheim das Stück nur für sich selbst skizziert. „Da muss man stilkritische Detektivarbeit leisten“, erzählte Barnieck. Das Dechiffrieren, Befragen und Nachbessern allein der Dritten Klaviersonate erstreckte sich über insgesamt drei Jahre.

Die Uraufführung spielte Barnieck am 30.06.2016 in New York, die Deutsche Erstaufführung am 30.10.2016 bei den Jüdischen Kulturtagen in Worms, Gernsheims Geburtsstadt. Barnieck erntete so viele ermunternde Kommentare, dass er eine Aufnahme davon ins Netz stellte. „Daraufhin erhielt ich zu meiner Freude und Überraschung die Anfrage vom Londoner Label Toccata Classics, ob ich nicht das gesamte Klavierwerk von Gernsheim ein­spielen möchte“, erzählte Barnieck. Zu einer ersten CD ergänzte er die beiden frühen Sonaten mit sechs Präludien voll pianistischer Klangsinnlichkeit, die Gernsheim im Alter von 25 Jahren geschrieben hat. „Natürlich baut man zu einem Stück, dessen Werdegang man anhand der Korrekturen nachvollziehen kann, eine sehr viel engere Beziehung auf, als wenn man es nach vorliegenden Noten übt“ kom­mentierte Barnieck die hohe geistige und emotionale Präsenz seiner energiereichen Einspielung. Eine zweite CD wird noch in diesem Jahr erscheinen. Eine dritte ist in Arbeit und Barniecks Begeisterung ist eher noch gewachsen: „Mich faszinieren gerade die Brüche in seiner Musik. Ich höre da einen Menschen auf der Suche: unverstellt, ehrlich. Und manchmal auch verschmitzt“.

DORIS KÖSTERKE
19. Mai 2020

Von der ersten CD hat Barnieck noch ein paar Restexemplare. Die verkauft er auch über seine Website und spendet jeweils zwei Euro pro CD an ein Frauenhaus in seiner Nähe.