Passionsmusiken – Kein Fall für Klopapier

Musikalisch ist die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern die Zeit der Passionsmusiken. Am populärsten sind die vom „alten Bach“.  Aber der  dramaturgisch höchst eindrucksvolle Stoff wurde auch in jüngerer und jüngster Zeit in ansprechende musikalische Formen gebracht.

„Lass diesen Kelch an mir vorübergehen“, denkt mancher, dem es in diesen Tagen im Halse kratzt. Man muss kein gläubiger Christ sein, um beeindruckt zu sein von dem Menschen, der seine Gebete mit diesen Worten begann: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir“. In Todesangst, während seine Jünger vor sich hin schnarchen (welch eine Dramaturgie!), betet Jesus weiter: „… ist’s nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn“. Daran hält er sich, während er vom Volk zu Tode gemobbt wird. Obwohl Pontius Pilatus ihm Möglichkeiten eröffnet, sich seiner Haut zu wehren.

Passionsmusiken, nicht nur von Bach

Anstrengungsmuffel können sich eine Lesart der Story über Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“ reinziehen. Bildungsbürger schwören, wenn es um die musikalische Ausgestaltung geht, auf Bach. Auf dessen dramatische „JoPa“ nach Johannes (auch für Anfänger) und die in jeder Hinsicht große „MaPa“ nach Matthäus (für Fortgeschrittene). Für die verschollene Musik zu Bachs Markus-Passion gibt es mehrere Rekonstruktions-Versuche. Seine Lukas-Passion hat Bach mutmaßlich (als Ausdruck großer Wertschätzung) von einem anderen Komponisten abgeschrieben und nur einzelne Teile ergänzt.

Doch wie Guido Holze bereits in „Holze entdeckt“ andeutete, gibt es im Aufmerksamkeitsschatten Bachs unübersehbar viele andere musikalische Ausdeutungen. Vor allem aus der Zeit von Renaissance und Barock: Orlando di Lasso schrieb 1575 eine Passion nach Matthäus, 1580 eine nach Johannes. Leonhard Lechner 1593 eine nach Johannes. Heinrich Schütz 1664 über Lukas, um 1665 über Johannes und 1666 über Matthäus, William Byrd „The Passion According to St. John“ um 1665, um nur ganz wenige zu nennen. Vom Frankfurter Lokalheiligen Georg Philipp Telemann existieren Johannes-, Lukas- und Markus-Passion in jeweils elf Vertonungen. Von der Matthäuspassion sind sogar 13 überliefert. Möglicherweise werden sie mit buchhalterischer Gründlichkeit alle einmal aufgeführt.

Musik und Gemüse

Im Moment jedoch nicht. Auch die von Guido Holze angekündigte Aufführung der Passio secundum Joannem (ca. 1685) von Alessandro Scarlatti in der Wiesbadener Bergkirche, die das Werk des Zwanzigjährigen mit Responsorien des gereiften Scarlatti durchsetzt, wurde Corona-bedingt auf Samstag, den 20.03.2021 verschoben. Im Netz finden sich einige Aufnahmen, auch von äußerst renommierten Künstlern, die aber alle nicht recht befriedigen: Wie Gemüse, so verliert auch Musik an Qualität, wenn sie konserviert wird.

Von der Datenreduktion einmal abgesehen fehlt die innere Vorbereitung. Und bestehe sie nur darin, dass man den gesamten Tag daraufhin plant, zur bestimmten Zeit an bestimmtem Ort zu sein. Die Musiker in ihrer Anspannung zu erleben, an heiklen Stellen mit ihnen zu fiebern, ihre und die eigene Konzentration samt Durchhaltevermögen zu erleben – in Musikkonserven verliert das drastisch an Aroma.

Neuere Passionsmusiken

Wer sich trotzdem jahreszeitgemäß mit Passionsmusiken beschäftigen und Neues erleben möchte, staunt anhand der vielen im Netz verfügbaren Aufnahmen über die Fülle zeitgenössischer Kompositionen. Man tut ihnen Unrecht, wenn man sie pauschal als Fall für Klopapier abtut: Die Lukas-Passion des am 29.3.20 verstorbenen Krzysztof Penderecki etwa wird auch von Laien geschätzt.

Kurt Thomas (1904-1973) leitete in Frankfurt das Musische Gymnasium und war Kantor an der Dreikönigskirche. Aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft umstritten leitete er, nach einem Zwischenspiel als Leipziger Thomaskantor unter anderem die Frankfurter Kantorei. Ein Auszug aus seiner 1927 entstandenen Markus-Passion auf YouTube mit dem von Jörg Straube geleiteten Norddeutschen Figuralchor beweist hohe kontrapunktische Chorkunst.

Auch für Agnostiker

Nach dem zweiten Weltkrieg haben die Passionsmusiken eine wahre Renaissance erlebt. Viele von ihnen streben nach einer Spiritualität, die über konfessionelle Grenzen erhaben ist. So bezeichnete Sofia Gubaidulina ihre Johannespassion (2000) als „tief religiöses, aber nicht kirchliches Werk“.

„Passio“ (1982) von Arvo Pärt

An Beliebtheit nimmt die „Passio“ (1982) von Arvo Pärt es mittlerweile mit Bach auf. Mit einem völlig anderen ästhetischen Ansatz: In den reinen Harmonien und im Idealfall sauber ausgehörten Dissonanzen wird ein Zuhörer gestimmt, wie ein vielsaitiges Instrument. Poetisch könnte man sagen: damit Gott darauf spielen kann. Statt Dramatik und Gefühlsausdeutungen schafft Pärt eine asketische spirituelle Atmosphäre, in der jeder Hörer seine eigene Rückbindung (religio) erfahren kann an etwas, dem eine höhere Verbindlichkeit zukommt als weltlichen Zwängen und eigenem Ermessen. Es lohnt sich, sich das Werk bis zum Schluss anzuhören, in dem es aus den unteren Regionen des Quintenzirkels aufsteigt in ein strahlendes, lebensbejahendes D-Dur. Im Netz wimmelt es von Interpretationen, die an die ECM-Einspielung mit dem Hilliard-Ensemble jedoch nicht heranreichen.

Lukas-Passion (2008) von Calliope Tsoupaki

Selbst als digitale Konserve zieht die 2008 uraufgeführte Lukas-Passion (2008) von Calliope Tsoupaki in den Bann. Sie verknüpft die byzantinische Melodik und Hymnendichtung von Romanos Melodos (um 485 bis um 560) über zeitgenössische Kompositionstechniken mit Texten aus dem Evangelium. Die Mischung der Interpreten, darunter Ioannis Arvanitis mit seinem Byzantinischen Chor, die palästinensische Sängerin Raneen Hanna, sowie westliche Interpreten wie das Nieuw Ensemble unter Ed Spanjaard und kernige Männerstimmen aus dem Egidius Kwartet spricht für sich. Dazu erinnern sparsam eingesetzte orientalische Melismen und Instrumente, wie das Streichinstrument Kemençe, die Flöte Ney und die Zither Quanun zugleich an die Vielfalt der patristischen Religionen und Konfessionen, wie auch an ihre gemeinsame Wurzel im Vorderen Orient. Der 1963 in Piräus geborenen, nun in den Niederlanden lebenden Komponistin, die unter anderem bei Louis Andriessen studiert hat, gelingt hier eine magnetische Tonsprache, die zugleich unverbraucht und archaisch fest verwurzelt klingt. Voller gesanglicher Linien schafft sie einen Schönklang-Sog hin zu einer inneren Sammlung. Auch für Anfänger geeignet!

DORIS KÖSTERKE
März/April 2020

 

Empfohlene Links:

Kurt Thomas, Markuspassion (Ausschnitt). Noch auf LP erhältlich.
Calliope Tsoupaki, Lukaspassion (Ausschnitt).  Auf CD eingespielt bei Etcetera, Bestellnummer: 8576957.