Wiese, Schätze, Datenklau – Land (Stadt Fluss)

Es riecht nach frisch geschnittenem Gras und Gemüse. Der Saal im Mousonturm ist mit Rasen ausgelegt. Auf der bühnenfüllenden Leinwand setzt sich der Rasen fort: grüne Hügel, Höfe, abgezirkelte Wälder zwischen ebenso gepflügten Feldern. Idylle? Seidls Musik meint: Jein.

„Land (Stadt Fluss)“ heißt das neue, jüngst uraufgeführte Gemeinschaftswerk von Hannes Seidl und Daniel Kötter. Es ist, nach „Stadt“, das zweite Werk in der Trilogie, die noch einen „Fluss“ erwarten lässt. Durchs Zuschauerraumgras mäandert eine Furche, setzt sich auf dem Leinwandbild fort und irritiert: Sowas passiert nicht auf dem Land. Da hätten ja die Nachbarn im weiten Umkreis ihren Spott. Moment: Eben war die Fortsetzung noch deckungsgleich, jetzt nicht mehr. Aha: das Bühnenleinwandbild wandert.

Davor sitzen oder liegen Zuschauer auf Picknickdecken, kuscheln, lesen, befragen ihre Handys. Auf der Leinwand schlagen sie Pflöcke ein. Recht gemächlich, mit manchem Griff nach der Flasche Bier. Auch für die Zuschauer gibt’s was zu trinken. Auf der Leinwand wie auf dem Rasen sieht man die gleichen Musiker. Sie spielen Trompeten, Posaune, Horn. In zwanglosem Einander-Durchdringen unaufgeregter Tonfolgen, die einen merkwürdigen Zustand zwischen Entspannung und Hab-Acht-Stellung bewirken. Nicht wie die ländliche Blaskapelle, die sich bisweilen über Lautsprecher einmischt wie Düsenjägerwummern und andere ländlichen Geräusche.

Pipelines, Geld- und Datenströme

Nicht nach Partitur erfolgt das klappernde Schneiden von Gemüse für Suppe, die langsam vor sich hin köchelt und riecht, dass man sich fühlt, wie ein Pawlowscher Hund. Da hilft das von Johann Pastuch geschriebene Textbuch. Jeder hat am Eingang eins bekommen, zum Lesen auf der Wiese. Das Lesen wird zum Sog: die unterhaltsamste Realsatire seit „Per Anhalter durch die Galaxis“! Habe ich laut gelacht? Sorry. Oh, sorry: schon wieder. Zwischendurch ein Blick über die grünen Wiesen – nach der Lektüre sieht man sie nur noch als Deckmäntelchen der Pipelines, Geld- und Datenströme.

Die Bühnenfortsetzung der krummen Furche ist mittlerweile wieder an der Furche im Zuschauerrasen vorbeigezogen. Da dreht sich also was: Die Welt um eine Kamera, könnte man in Verwechslung von Ursache und Wirkung sagen.

Unternehmer auf der Wiese

Bleib am Fleck und schau, wie die Welt sich dreht, schrieb sinngemäß Henry Miller in seinem Buch über seine Zeit als Aussteiger am kalifornischen Big Sur. So ähnlich machte es auch Bauer Schäfer. Physisch sein Leben lang nicht weiter als zum nächsten Misthaufen gekommen hat er in den Neunzigern auf der Krim investiert. Der Hof blieb Unternehmenssitz. (Der Prokurist erfolgreich ermordet – wie reagieren die Aktien?)

Die Furchenfortsetzung ist schon zwei oder dreimal vorbeigezogen. Es wird dunkel, wie im Video, so auf der Wiese. Und auch dort spürt man den Wind. Auf der Leinwand sieht man eine improvisierte lange Tafel und auch für die Zuschauer gibt es Suppe. Lagerfeuerqualm dringt aus dem Film in den Saal: Vexieren von Realität und Fiktion.

Theater sei immer Fake. Bestenfalls weise es auf Wahrheit hin, hatte Seidl einmal gesagt. Die Wahrheit erschien hier aufgefaltet wie die tektonischen Schichten unter den gepflegten Zäunen in Kötters Film. An Calcit, Aragonit, Vaterit, Gas, Öl oder geklauten Daten verdient auch auf dem Land mancher in der Sekunde mehr als sein Nachbar im Monat.

Bauten werden hochgezogen. „Bauten, die uns abschirmen. Nachts passiert nämlich viel, nicht nur außerhalb der Bauten. Nicht über alles kann gesprochen werden, nicht alles kann gezeigt werden und zeigen hilft auch nicht immer“, heißt es im Textbuch. Doch der Städter verlässt „Land (Stadt Fluss)“ nach fünf Stunden so erholt wie nach einem Ausflug.

DORIS KÖSTERKE
15.9.18