„Mama, was ist Tod?“

 

Als meine Tochter etwa drei Jahre alt war, stellte sie mehrmals täglich solche Fragen.
Die christliche Vorstellung von der Seele kann und will ich nicht teilen. Die Antworten, die mir einfielen stelle ich gern zur Diskussion.

„Mama, was ist Tod?“

 

Vor dem Tod brauchst Du keine Angst haben.
Der Tod ist das Normale.
Das Besondere ist das Leben.

Leben wäre, wenn aus unserem Tisch plötzlich Zweige und Blätter wüchsen.
Oder wenn Dein Kuscheltier jetzt sagen würde: „ich muss Pipi!“.
Oder wenn unser Haus beschließen würde: „Ich geh‘ woanders hin“. Und wenn wir müde sind und Hunger haben, müssten wir es erst überall suchen.

 

„Warum wollen alle Menschen leben?“

 

Es ist einfach schön ist, seinen Körper zu spüren, den Wald zu riechen, Wind, Sonne, Regen und Schnee auf der Haut zu fühlen, die Vögel zu hören, zu singen, zu springen, zu laufen, zu spielen, zu lachen, zu bauen, zu malen.

Vor allem ist es schön zu fühlen, wenn Menschen einen lieb haben. Und wie Liebe wächst, wenn man einem anderen Menschen lieb begegnet.

 

„Warum müssen alle Menschen sterben?“

 

Das Leben ist wie Feuer. Es geht leicht aus. Es kann auch lange brennen. Aber dann hat sich irgendwann so viel Asche angesammelt, dass es zunehmend schlechter brennt.

Menschen können dann nicht mehr richtig laufen. Und ihnen tut immer mehr weh.

Irgendwann kann kein Arzt mehr helfen: Man müsste so viele krankengymnastische Übungen machen, dass ein Tag nicht mehr ausreicht und so viele Tabletten schlucken, dass einem davon ganz schlecht ist.

Später wirst Du von Sisyphos lesen, der Thanatos, den Tod, für eine Zeit aus der Welt geschafft hat. Da war die Welt voller Menschen, die so starke Schmerzen hatten, dass ihnen das Leben eine Qual war, die sie nicht mehr aushielten.

Wenn es keinen Tod gäbe, wäre die Welt voller alter, kranker und schlecht gelaunter Menschen.

[Natürlich werden wir irgendwann über den Missbrauch von Euthanasie reden …].

 

„ … und wenn sie tot sind, was dann?“

 

Die Menschen, die wir lieb hatten, leben in uns weiter. Wir denken an sie. An den Glanz in ihren Augen, daran, wie ihre Stimme geklungen hat. Daran, was sie gesagt und wie sie gelebt haben.

Ihre Körper werden, wie die kaputten Bäume im Wald, wieder zu Erde. Daraus wachsen wieder neue Pflanzen, Blumen, Bäume, Gräser, an denen Menschen und Tiere sich freuen.

Du kennst die hilfreichen Vögel im Dornröschen-Märchen: Noch heute habe ich manchmal das Gefühl, meine Eltern würden noch etwas für mich tun, obwohl sie beide schon lange, lange tot sind.
Die Mutter hat Dornröschen ermahnt, immer „fromm und gut“ zu sein. Damit meinte sie, dass Dornröschen an das denken soll, was ihre Mama ihr beigebracht und ihr vorgelebt hat.

Die Menschen, die wir lieb hatten, haben uns etwas vorgelebt.
Vieles Schöne und Brauchbare. Das verstehen wir immer besser, je älter wir werden.
Manchmal sagen wir auch: „So wie die will ich nicht werden“.
Auch das ist gut so.

 

„Wann stirbst du?“

 

Das weiß ich nicht und kann es auch nicht wissen. Deshalb möchte ich Dir jeden Tag möglichst viel Liebe geben. Sie macht Dich stark. Wenn ich einmal tot bin, wirst Du es auch ohne mich schaffen.

 

„Wann sterbe ich?“

 

Das kann und will ich nicht wissen.

Ich hoffe nur, dass ich das nicht erleben muss.
Und dass Du lange lebst und viel Schönes erlebst.

Leben ist ein Geschenk, das wieder weggenommen wird

Man kann nur wissen, dass das Leben ein wunderbares Geschenk ist.
Es kann einem jeden Tag weggenommen werden.
Man muss auf es aufpassen: auf der Straße, beim Klettern, beim Aus-dem-Fenster-Gucken.

Vor allem soll man sich an ihm freuen.