„Das Herz, das Gefühl hinter der Musik – das ist das Wichtigste. Man muss das suchen. Das ist das Schwierigste!“ – Im Gespräch mit Michael Rebhahn baute Bratschist Antoine Tamestit berührend gefärbte Brücken zum gut besuchten jüngsten Konzert im Forum N, das Luciano Berio (1925-2003) in den Fokus rückte.
Antoine Tamestit in Aktion und Gespräch
Tamestit, derzeitiger „Artist in Residence“ des hr-Sinfonieorchesters, war Solist in „Voci“ (1984) für Viola und zwei Instrumentengruppen, in dem Berio seine avantgardistische Tonsprache mit sizilianischen Volksmelodien verschmolzen hat, wobei nicht nur die Solo-Bratsche diese Liebes-, Arbeits- und Wiegenlieder und Balladen mit den emotionalen „Unsauberkeiten“ einer folkloristischen Frauenstimme anreichern soll. Die beiden Orchestergruppen waren im hr-Sendesaal als zwei verschieden große, mit deutlicher Lücke ineinander geschachtelte Schalen aufgestellt. Nach Tamestits Beschreibungen verstand man sie wie das Ineinander von Gegenwart und Geschichte, wie man es in sizilianischen Städten wie Palermo oder Agrigento erlebt.
Die experimentierfreudige Klangsprache war durchsetzt von herzhaften Dudelsack-Imitaten, Bänkelsänger- und Volkstanz-Idiomen. Nebenher staunte man über Tamestits virtuosen Wechsel zwischen erweiterten Spieltechniken, etwa ein an das Rasgueado von Flamenco-Gitarristen erinnernde Schrammeln der Saiten bis zur zart entrückten Flageolett-Melodie und zuckte zusammen, wenn unerwartete Resonanzen, Verstärkungen und Kommentare über den raumzeitlichen „Graben“ zwischen den Orchestergruppen sprangen.
Matthias Pintscher als Dirigent
Matthias Pintscher dirigierte spürbar als Komponist, als Nachschaffender von Werken, die er gründlich durchdrungen hat: voll und ganz bei Sache, mit vorbehaltlosem Ganzkörpereinsatz, in klaren, suggestiven Bewegungen, als vorausschauender Stratege und wirksamer Koordinator, auch in „San Francisco Polyphony“ (1973-74) von György Ligeti, einem akustischen Wimmelbild aus vielen gleichzeitigen und gleichwichtigen Vorgängen im Wechsel mit gläsernen Klangflächen und glitzerndem Farbenspiel, sowie in Berios 1968 vollendetem Hauptwerk „Sinfonia“ für acht (elektronisch verstärkte) Singstimmen und Orchester.
Sinfonia von Luciano Berio
Die groß angelegte, auf vielen Ebenen durchgestaltete, Musik-, Literatur- und Kulturgeschichte durchmessende Collage birgt Zitate und Stilkopien von Bach bis Boulez und ganz viel Mahler. Texte, die, von den acht Sängerinnen und Sängern der „Synergy Vocals“ souverän überzeugend gesungen, gesprochen, geflüstert und skandiert, mischten sich gleichberechtigt mit den Instrumentalklängen in ein klanglich-perkussives Konglomerat. Mitunter dachte man an Tamestits Worte aus dem Einführungsgespräch: „Man kann mit Musik auch lachen“.
DORIS KÖSTERKE
Vgl. auch die Rezension des Konzerts von Antoine Tamestit und Masato Suzuki