Oberursel. Mit seinem trocken perlenden, auch in Höchstgeschwindigkeitslaufwerken noch ebenmäßigen Anschlag begeisterte Rafał Blechacz in der Stadthalle Oberursel. Der Beginn des Konzerts bei der Chopingesellschaft Taunus e.V. mit Bachs Partita Nr. 2 c-Moll BWV 828 erschien wie eine Verbeugung vor dem Gastgeberland. Hier überzeugten vor allem die sanglich gestalteten langsamen Sätze, deren spannungsvolle Mehrstimmigkeit Blechacz wunderbar durchsichtig zu gestalten wusste. Nicht von ungefähr hat der 1985 in Nakło nad Notecią (deutsch: „Nakel“) geborene Pianist schon als Teenager zahlreiche Preise gewonnen. Im Alter von gerade einmal zwanzig Jahren gewann er, als erster Pole seit Krystian Zimerman, den Chopin-Wettbewerb in Warschau, einschließlich aller vier Sonderpreise und dem Publikumspreis. Um den Abstand zu anderen Bewerbern deutlich zu machen, wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs kein zweiter Preis vergeben. Seitdem festigte Blechacz seinen Ruf als einer der besten Pianisten der Welt.
Nicht nur Pianist
Zwischenzeitlich hat er noch eine Doktorarbeit im Fach Philosophie geschrieben, über Aspekte von Metaphysik und Ästhetik in der Musik. Sie habe ihm geholfen, „die Freiheiten und Grenzen musikalischer Interpretationen besser zu verstehen“, formulierte er gegenüber der Kultur-Website „KlassikAkzente“. Solche Grenzen waren auch in diesem Konzert spürbar: Im Allegro-Teil der Sinfonia in der Bach-Partita überraschte ein Pedalgebrauch ohne unmittelbar einleuchtende Vorteile. Auch in anderen schnelleren Sätzen ließen sich mitunter verknubbelnde Linien ein Fragen aufkommen, mit welchen Mitteln sich vielleicht mehr Trennschärfe hätte erreichen lassen. Das Fragen kam zu keinen besserwisserischen Ergebnissen. Auch die Überlegung, ob Bach sich für die Realisierung vielleicht ein zweimanualiges Cembalo vorgestellt hätte, an dessen klangliche Schattierungsmöglichkeiten der Konzertflügel im schnellen Tempo nicht heranreicht, schien bei kritischem Blick in den Notentext nicht immer als der Weisheit letzter Schluss. Vielleicht kommt Interpretation an diesem Punkt wirklich an jene Grenzen, wo eine im Notentext kondensierte Klangvorstellung Utopie bleibt?
Bekenntnis zu Europa
Im politischen Kontext dieser Tage wirkte auch das weitere Programm wie ein Bekenntnis zu Europa: Als Wahl-Österreicher vereinigte Beethoven belgische und deutsche Wurzeln. Seine 32 Variationen c-Moll WoO 80, die Blechacz an zweiter Stelle im Programm spielte, vexieren zwischen Musik und pianistischer Eigendynamik.
Aus Chopins „Vater“-Land folgte in der zweiten Hälfte des Abends das eigentlich für Orgel geschriebene „Prélude, Fugue et Variation“ von César Franck, dessen äußere Schlichtheit einer umso tieferen Religiosität Raum gibt. Auch hier überzeugten vor allem die langsamen Rahmensätze. Krönung des Abends war Chopins Sonate h-Moll op. 58. Hier erschien alles restlos stimmig und ausgereift, die souveräne Pianistik, die klare Unterscheidung zwischen tragender Substanz und färbendem Beiwerk, die zielgenau dosierte Agogik und, tief berührend, die zurückgehaltene und gerade deshalb verstärkt spürbare Emotionalität.
DORIS KÖSTERKE
6.3.2022