Feindbild „Entertainment“

Seit ihrer Gründung vor siebzig Jahren gelten die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik als Pilgerstätte der musikalischen Avantgarde. Aber was soll man unter Avantgarde verstehen?

Avantgarde?

Eine Vorhut, die hofft, zum Mainstream zu werden? Die mit avancierter Technik agiert? Oder ist es ihr Wesen, zu provozieren? So dass sie niemals zum „Mainstream“ werden kann, weil sie sich dann wiederum davon absetzen müsste?

Helmut Lachenmann, leuchtendes Vorbild Darmstädter Komponistengeistes, erzählte in einem Gespräch mit Stefan Fricke, man habe ihm oft gesagt, er sei „kein richtiger Avantgardist“. Dem habe er niemals widersprochen. Aber er habe ein klares Feindbild: „Entertainment“.

„Entertainment“

Ein fruchtbares Zerrbild von dem, was „Unterhaltung“ ist und leistet, lieferte Esther Leslie im eintägigen, von Christian Grüny und Georgina Born konzipierten Kongress „Deconstructing the Avant-Garde“. In ihrem Vortrag „The Particulars of the Avant Garde“ referierte sie unter anderem das heute noch von John Coleman vertretene Gerücht, dass ausgerechnet der elitäre Adorno die Texte der Beatles und anderer Pop-Songs geschrieben habe, im Auftrag des „Committee of 300“, einem Zusammenschluss der dreihundert wirtschaftlich mächtigsten Männer der Welt, der danach trachtete, unmündige Massen durch vielfältigen Komfort, (musikalische) Drogen und sexuelle Verderbnis zu verweichlichen, um sie sich nachhaltig für eigene Zwecke gefügig zu machen.

Fetisch

Sofern es diese sich ständig regenierenden Dreihundert gibt (und sofern sie überhaupt noch so viele sind), freuen sie sich sicher über die Unbefangenheit, mit der junge Komponisten ihr Handwerk auf die kommerzielle Eigendynamik der Computerindustrie gründen.

Dass Avantgarde jedoch nicht notwendig auf die beschränkt bleiben muss, die sich neueste Technologien leisten können und tapfer einer Vielzahl akademischer Ausbildungen durchlaufen, zeigte Benjamin D. Piekut in seinem Vortrag „The Vernacular Avant-Garde“. Unter anderem erinnerte er an Anthony Moore, den Ko-Autor verschiedener Pink Floyd-Songs: Der 1948 geborene Engländer hatte sein Kunst- und Design-Studium nach einem Jahr abgebrochen und nie eine musikalische Ausbildung genossen. Er hatte einfach Spaß am Basteln mit Tonbändern, vertraute dabei allein seinen Ohren und schuf Respektables.

Oft gewinnt man den Eindruck, dass über den Erwerb von Fertigkeiten im Umgang mit Kompositionsprogrammen die Frage verloren geht, warum man überhaupt komponiert.

Fake

Aber was soll Musik überhaupt noch sagen? Sie kann Geist und Sinne dafür schärfen, dass eine mediale Vermittlung grundsätzlich eine Manipulation darstellt. Für Hannes Seidl war Bühne schon immer „Fake“. Bestenfalls verweise sie auf eine Wahrheit, die jedoch immer außen vor bleibt. Seine neueren Produktionen zielen auf bewusste Trennungen zwischen Fiktion, Dokumentation und Realität. In der begehbaren Produktion „ingolf #6“, die er gemeinsam mit Daniel Kötter in Gelsenkirchen realisiert hat, können Besucher etwa Modelle privater Apartments betreten, um darin reale Erfahrungen machen.

Uncanny Valley

Im Kaleidoskop von Realität, Abbild und Fiktion sprudelte Jennifer Walshe in ihrem Vortrag „Ghosts in the hidden layer” wie ein kunterbunter Wasserfall. Darüber, dass sie aus Klang, Rhythmus und Melodie einer Stimme auf die Person schließen könne: auf deren Status, ihre Befindlichkeit und sogar, ob sie gerade prokrastiniert. Hochwertig synthetisierte Stimmen hingegen tönten geisterhaft aus dem „Uncanny Valley“. Als solches bezeichnen Robotiker den paradoxen Effekt, dass zunehmend menschenähnliche Roboter nicht als zunehmend niedlich empfunden werden. Überträgt man die Grade ihrer Menschenähnlichkeit auf eine Skala von eins bis zehn, steigt die Akzeptanz linear bis zu einer Menschenähnlichkeit von etwa acht. Eine Menschenähnlichkeit zwischen acht und neun hingegen wirkt zombiehaft und gruselig. Jenseits der neun würde die Akzeptanzkurve extrem steil ansteigen. Aber davon ist die digitale Nachbildung von Stimmen noch weit entfernt: Um zuverlässig geisterhafte Wirkungen bei der Dopplung ihrer eigenen Stimme mit digitalen Simulationen braucht Jenny Walsh sich vorerst nicht zu sorgen.

Muss Avantgarde immer vorwärts drängen? Martin Iddon plädierte in seinem Vortrag „Stil modern“ für mehr Nostalgie in der Gegenwartskunst: dass Utopien gescheitert sind heiße nicht, dass man ihr gesamtes Potenzial verwerfen müsse.

Avantgarde!

Aber eins sollte Avantgarde sein: ein Stachel gegen die Bequemlichkeit. Im Vergleich zum wohligen philharmonischen Schönklang sei es allein schon ein kritisches Moment, Irritierendes und Beklemmendes in Musik zu setzen, sagte Lachenmann. Er wolle eine „emphatisch erlebte Kunst, die uns erinnert, dass wir geistfähige Kreaturen sind“. Amen.

DORIS KÖSTERKE
27.07.2018