DARMSTADT. „Will Kunst die Welt verschönern oder auch Stellung beziehen?“, fragte der Philosoph Christian Grüny in seinem Vortrag „Musik – Sprache – Propaganda“ auf der jüngsten, der 74. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM).
Das in Darmstadt beheimatete, 1948 gegründete Institut zielt auf eine breite interessierte Öffentlichkeit. In diesem Jahr fand die viertägige Tagung notgedrungen per ZOOM statt und erreichte dabei ungewöhnlich viele Teilnehmer. Deren Zahl dürfte im Nachhinein noch wachsen. Denn die auf Youtube gestreamten Konzerte bleiben ebenso abrufbar, wie für diese Tagung entstandene Texte.
Das diesjährige Motto, Verflechtungen, spiegelte die Tradition der Tagung, aktuelle Erscheinungen der Neuen Musik in Relation zu anderen Ausdrucksweisen zu stellen. Auch zu musikfremden Fragern der Gegenwart, wie Christian Grüny.
Er zeigte das Plakat „And babies” (1969), mit dem Künstler der New Yorker Art Workers Coalition (AWC) gegen den Vietnamkrieg protestiert hatten. Er erinnerte an Adornos Idee, Musik könne allenfalls ihrer Form nach politisch sein, durch ein Brechen mit Traditionen und Komplexität. Doch, fragte Grüny, sei es nicht an der Zeit, diese Komplexität aufzukündigen? Zugänglicher zu werden? Um politische Inhalte lesbar zu machen? Neue Musik sollte keineswegs zur Propaganda werden. Aber „Aufklärung betreiben“ sei ein lohnendes Ziel.
Dass Musik nicht notwendig an Sprache oder Bühnenaktion geknüpft werden muss, um verständlich zu sein, zeigte Theda Weber-Lucks in ihrem Vortrag „Vokale Performancekunst als universelle Sprache“. Ihre auch neurowissenschaftlich untermauerte These: Non-verbale, von keiner Syntax abhängige stimmliche Äußerungen, wie etwa Meredith Monk sie einsetzt, sind für Menschen aller Kulturen unmittelbar verständlich.
Im Konzert der Sopranistin Sarah Maria Sun mit Jan Philip Schulze (Klavier) und Kilian Herold (Klarinette) wurden drei Kompositionen uraufgeführt, die das INMM mit Hilfe der Ernst von Siemens Musikstiftung in Auftrag gegeben hatte: In „Hyperions Schicksalslied“ reflektiert Rolf Riehm (*1937) den Hölderlin-Text in einer unkonventionellen Stimm-und Körpersprache und einer pianistischen Cluster-Technik, die bei suboptimalen häuslichen Lautsprechern primär als Virtuosität der Ellenbogen wahrzunehmen war. Der 1986 in Ottawa geborene Thierry Tidrow widmete sich in „Der Sturm“ und „Die Flamme“ dem schwarzen Humor der gleichnamigen Texte von Christian Morgenstern, indem er Singstimme, Klarinette und Klavier zu einem klangmalenden Ganzen verschmelzen ließ.
Vorbehaltloser Einsatz von Sarah Maria Sun
Musik ist immer ein Gemeinschaftswerk: Sie will auch gehört werden. Und ohne Interpreten ist sie nicht wahrnehmbar. Sarah Maria Sun hat in einem Text für diese Tagung beschrieben, wie vorbehaltlos sie sich als ganzer Mensch am Notentext reibt, um ihn für sich und andere erschließen zu können. Die Tagung zeigte, dass „Werke“ auch der Synergie-Effekt eines Kollektivs sein können: Vor allem in der freien Szene begegnen sich Künstler auf Augenhöhe, befruchten einander mit ihren Ideen und ihrer Kritik.
Laborversuch mit Modellcharakter
In seinem Text „Die langwierige Methode des Ausdiskutierens“ erinnert der 1993 geborene Komponist Ole Hübner an den „Zwischenruf“ des Dramaturgen Björn Bicker im ersten Lockdown: Macht die Theater zu – um sie als Labore mit gesellschaftlicher Relevanz neu zu erfinden. Die Zusammenarbeit hinter der Bühne sieht Hübner als einen solchen Laborversuch mit Modellcharakter: „Kollaborative Musiktheaterarbeit ist kommunikative Arbeit“, bei der „man miteinander sprechen und, vor allem, zuhören muss“.
DORIS KÖSTERKE
10.4.2021
Poster „And Babies“ cf. https://en.wikipedia.org/wiki/And_babies
https://www.br.de/kultur/bjoern-bicker-theater-der-zukunft-100.html