FRANKFURT, DRESDEN. „Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein“, findet der 1965 in Chemnitz geborene bildende Künstler Carsten Nicolai. Beim Zeichnen mit elektronischen Klängen nennt er sich Alva Noto. Das Ensemble Modern arbeitet, um sich durch kein orthodoxes Verhalten einzuschränken, immer wieder mit Künstlern von außerhalb der klassischen Musik zusammen. Frank Zappa ist das bekannteste, Alva Noto das jüngste Beispiel. Dafür hat es nach einer Partitur von Max Knoth die elektronischen Klänge von Alva Notos „Xerrox 4“ in instrumentale übersetzt. Die Uraufführung dieser Fassung wurde im Frankfurt LAB realisiert und im Synergie-Effekt der Festivals „Frankfurter Positionen 2021“ und „TONLAGEN – Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“ gestreamt.
Indem die Kameraführung immer wieder einzelne der hoch konzentrierten Musiker in den Fokus setzte, beschnitt sie notgedrungen die wohl auf ein ganzheitliches Erlebnis gerichteten Video-Projektionen und Lichteffekte. Alva Noto hat bei der Aufführung auch mitgewirkt. Was er von seinem elektronischen Pult alles steuerte, wurde nicht klar.
Der Name Xerrox 4
Der Name Xerrox 4 spielt einerseits auf das Vervielfältigungsverfahren der Xerografie an, hergeleitet aus ξηρός, trocken und γραφή, Schrift. Das doppelte R steht für „Error“. Kompositionstechnisch handelt es sich um einen Kopiervorgang mit eingebauten Fehlern, traditionell bezeichnet als entwickelnde Variation.
Zusammen mit einem Programmierer habe er „eine Software entwickelt, die einen Kopiervorgang ausführt mit einer ganz leichten Verschiebung der Auflösungszahl“, sagt Alva Noto im Interview mit Stefan Schickhaus. Es ist im Programmtext abgedruckt und diente hier als Steinbruch für Informationen und Zitate. „Eine CD zum Beispiel wird gesampelt mit einer Frequenz von 44,1 kHz und 16 Bit. Wenn man diese beiden Einstellungen leicht manipuliert, werden Informationen weggenommen“, sagt Noto. „Der Algorithmus denkt sich nun etwas aus, um die Lücken zu füllen. Und wird in gewisser Weise kreativ“. Mit ein wenig Übertreibung könnte man von künstlicher Intelligenz sprechen.
Im Fluss künstlicher Intelligenz
Der Reiz dieser Musik ist dem der Minimal Musik verwandt: Man kann sich dem runde 120 Minuten füllenden Fluss wie einem psychedelischen Rausch hingeben. Man kann auch versuchen, die erkannten Muster zur eigenen Orientierung zu charakterisieren. Aber bevor das gelingt, haben sie sich schon wieder verändert. Im Material klingen Klischees wie bebende Streicher-Vibrati, stummfilmdramatische Klavierdonner oder sphärisch gegeigte Vibraphonstäbe an. Doch auch sie verflüchtigen sich, kurz bevor sie auf die Nerven gehen. Gleiches gilt für einige Melodien. Die hatte Alva Noto früher vermieden. „Es ging ja um eine Negation dessen, was klassischerweise Musik ausmacht“, sagt er. Aber: „Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein“.
DORIS KÖSTERKE
17.4.2021
Zum Vergleich: Eine Elektronik-Fassung auf YouTube von Mikoto Urabe: https://www.last.fm/music/Alva+Noto/Xerrox,+Volume+4/+images/c1b602fbbc6b992fe3ec2481d5761b22.